Mozart, Wolfgang Amadeus
Le nozze di Figaro
3 CDs
Anderthalb Stunden Musik rasen bekanntlich seit 1977 auf einer goldenen Schallplatte durchs All, darunter die Arie der Königin der Nacht. Welche Mozartschen Höhenflüge würden wir heute auf die Reise schicken, von den emotionalsten, den menschlichsten Momenten der Weltgeschichte zu künden? Es empfiehlt sich Teodor Currentzis neuer Figaro, der auf drei kleinen, silbernen Scheiben ins Haus kommt, zusammen mit einem dreisprachigen, über 300-seitigen Programmheft. Glücksschauer schon beim ersten Anspielen: Die Ouvertüre umschwärmt und verzehrt den unbedarften Hörer wie eine hungrige Löwin. Die Musik knallt, sie fetzt, sie hetzt, sie bebt und pulsiert, niemals roh, eher nackt und in aller Leidenschaft. Jede Phrase ist besonders. Wo immer man genauer hinhört: gepfefferte Bläser-Artikulation, hüpfende Punktierungen, kaum Sänger-Vibrato, die subtilen Witze, die das Hammerklavier in den Rezitativen reißt: Alles ist individuell, taufrisch, das Programmbuch nennt es kompromisslos.
Einzigartig sollen die Bedingungen der Produktion gewesen sein. Kompromisslos erscheint schon die Geschichte, die ihr vorausging. Möglich wurde das Projekt durch einen kulturbegeisterten Gouverneur. 2011 trug er dem jungen griechischen Dirigenten die Stelle des Künstlerischen Leiters am dahindämmernden Opernhaus von Perm an (siehe auch den Beitrag in das Orchester 3/13, S. 32–35). Currentzis bat, sein in Nowosibirsk gegründetes Originalklangensemble mitbringen und es noch aufstocken zu dürfen. Ein Ölmagnat half, den Traum Wirklichkeit werden zu lassen. So fliegen nun die Solisten aus allen Himmelsrichtungen ein, während das russische Orchester, das das Permer Theater die Saison über hauptsächlich bespielt, zu Hause sitzt und beobachtet, wie die Ölfarbe von der Wand blättert. Wohlweislich verschweigt das Beiheft, das ohne einen kyrillischen Buchstaben auskommt, die schizophrenen Zustände vor Ort. Während Westeuropa beglückt über diesen Hörgenuss seufzt, werden wohl die wenigsten Permer von dieser Aufnahme erfahren, geschweige denn sie jemals zu hören bekommen.
Mithin kann man zwischen den Zeilen lesen, was alles passieren muss, damit eine so zauberhafte CD entsteht; und vielleicht auch, warum viele vergleichbare Projekte so medioker enden. Endlose Aufnahmesitzungen soll Currentzis abgehalten haben (was man zumindest den Sängern hin und wieder anzuhören meint); bei MusicAeterna steht eben niemand auf, deutet auf die Uhr und verweist auf vertraglich festgelegte Zeitgrenzen. Unprofessionell ist das? Vielleicht. Gar nicht in die Abläufe eines westlichen Orchesters einzutakten? Stimmt alles. Nur, wer schafft es heute sonst noch, Musiker so hörbar zu enthusiasmieren? Die Musik buchstäblich zu entgrenzen? Dieser Figaro schnurrt ab wie in einem Rausch, er macht neugierig, er macht süchtig.
Der kulturverrückte Gouverneur ist übrigens längst entlassen. Er wurde durch einen moskau-treuen Verwalter ersetzt. Wie lange wird das Geld noch reichen in Perm?
Martin Morgenstern