Pēteris Vasks

Latvija

Kammerkantate für Sopran, Flöte (Altflöte), Glocken und Klavier, Partitur und Stimmen

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Schott, Mainz
erschienen in: das Orchester 01/2020 , Seite 68

Wie wunderbar, wenn man wieder hören „lernen“ darf – wie z.B. mit Pēteris Vasks Kammerkantate für Sopran, Flöte, Glocken und Klavier. Voraussetzung ist, dass man keine ausgewiesene Spezialistin für lettische Musik unserer etwas weiter gefassten Zeit ist (Uraufführung am 19. September 1987), choristisch breit aufgestellt Erfahrungen gesammelt hat oder sich in Vasks Werk ohnehin schon lange hörsicher bzw. verstehend musizierend bewegt.
Der 1946 in Aizpute in Lettland geborene Komponist und Orchestermusiker beeindruckt mit einem äußerst umfangreichen kompositorischen Werk, in dem trotz breit gefächerter Genres die Zahl der sprachgebundenen Kompositionen (vor allem für Chor) dominiert, thematisch immer wieder um metaphorisch verbrämte historisch-biografische, um Natur- oder um religiöse Motive kreisend. Auch in der vorliegenden Kantate setzt Vasks auf die beeindruckende Lyrik diesmal Anna Rancānes: ihr Gedicht Latvija bildet die gedankliche und sprachliche Grundlage der faszinierenden Komposition. In der vorliegenden Ausgabe wird sich die Sopranistin mit den Feinheiten der lettischen Sprache befassen müssen, die gesanglich einiger Übung bedarf. Aussprachehilfen der lettischen Sonderzeichen finden sich direkt im Anschluss nach den Gedichtzeilen, die hier neben dem Original in deutscher und englischer Sprache vorliegen.
Auch sind die musikalischen Aufgaben groß, müssen im atmosphärischen Äther feinste Stimmnuancen ausgelotet und im diffizilen musikalischen Kommunizieren mit den Instrumentalisten zum Klangfaszinosum verwoben werden. Der Gesangspart liegt in dieser Ausgabe rein in der Partitur vor, was dieses dialogische Unterfangen deutlich erleichtern wird. Flöten- und Glockenstimme sind in Stimmen beigelegt; dennoch erscheint auch hier der intensive Blick in die Partitur unumgänglich.
Vasks schichtet mit großer Geste Klangbilder, setzt sie dem ätherisch fast verstummenden Moment gegenüber, lässt insbesondere im Klavier durch Einsatz von „Metallplektren“ zwischen den Saiten den diffusen obertonreichen Klangteppich ausloten. Dabei erstarkt auch das Vexierspiel mit Extremlagen, am Schluss geleitet scheinbar improvisierend im „ganz-Ohr-für-einander-Sein“ in einen metrisch ungebundenen Hauch von Klang.
Überhaupt erwächst die metrische Ungebundenheit immer wieder zu einem Element eigener Qualität im ansonsten phasenweise durchaus gebundenen Satz; die freien Passagen heben entweder im Zwiegespräch den Sprachcharakter auf instrumentaler Ebene noch hervor oder aber gehen ins Rezitativische. Das harmonische Geschehen entwickelt sich zu fließenden, schwebenden Klangereignissen, imitatorisch durchgefärbt, immer wieder komplett ausgedünnt: Eine äußerst konzentrierte, atmosphärisch intensive Musik, die in der angesetzten Dauer von zwölf Minuten scheinbar die Zeit anhält.
Sicher wird man sich bei Aufführungen einen akustisch besonders geeigneten Ort aussuchen; für eine allzu trockene Saalakustik sollte man sich dabei nicht entscheiden.
Christina Humenberger