Schnoes, Rainer

Lass mein Volk leben / Drei orientalische Gesänge

für Sprecher, Solosopran und 8- bis 24-stimmigen Chor a cappella / für 6- bis 8-stimmigen Chor a cappella und Solosopran

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Inventio, Berlin 2015
erschienen in: das Orchester 06/2016 , Seite 68

Gerne bilden wir uns ein, die derzeitigen Fluchtbewegungen in der Welt seien eine Ausnahme. Die Geschichte zeigt aber leider, dass Not und Unterdrückung, Flucht und Fremdheit menschliche Grunderfahrungen über Jahrhunderte und Jahrtausende sind. Rainer Schnoes (geb. 1964), Komponist und Sänger im Berliner Rundfunkchor, greift in seinen Drei orientalischen Gesängen für 6- bis 8-stimmigen Chor a cappella und Solosopran auf zwei persische Dichter und Mystiker zurück, Rufi und Hafis, die im 13. bzw. 14. Jahrhundert lebten – und über 400 Jahre später die deutschen Dichter Goethe und Rückert faszinierten. Die beiden längeren Hafis-Gedichte Abends, wenn die Fremden beten und Sei getrost! (übersetzt von Johann Christoph Bürgel) artikulieren die Erfahrungen von Fremdheit, Zweifel und Hoffnung. Rumis kurzes Gedicht Hier ist der Weg! (deutsch von Christoph Engen) bekräftigt am Ende die ermutigende Wendung: „Ich weiß, dass du müde bist. Aber komm! Hier ist der Weg!“
Aktuelles Gegenstück zu diesem Zyklus ist der Gesang Lass mein Volk leben auf Texte des syrischen Dichters und Malers Monzer Masri (geb. 1949). Immer eindringlicher beschreiben die von Larissa Bender übersetzten Strophen die Trauer über den Schrecken des inzwischen fünf Jahre währenden syrischen Bürgerkriegs. Jede von ihnen mündet mit steigender Intensität in den titelgebenden Refrain als Ausruf. Beide Werke von Schnoes waren ein Kompositionsauftrag des Rundfunkchors Berlin und wurden am 21. Dezember 2015 im Berliner Dom als nachdenklicher Impuls im Rahmen des Weihnachtskonzerts uraufgeführt.
Die Tonsprache ist atmosphärisch ansprechend. Der Tonsatz ist vom Gesang her konzipiert, verlangt aber einigermaßen erfahrene Sänger, darunter hohe Sopran- und tiefe Bassstimmen. Harmonik und Melodik orientieren sich an archaisch-folkloristischen, impressionistischen und jazzgeprägten Wendungen, gehen aber in einem kompositorisch gut durchstrukturierten Gesamtbild auf. Trotz der inhaltlichen Anspannung und intensiver Textausdeutung dominiert ein ruhiger, gebetshafter Duktus. In den Drei orientalischen Gesängen werden der Chor-Sopran und ein zusätzlicher Solo-Sopran zu Trägern der Textbotschaft.
In Lass mein Volk leben hebt sich der von ruhigen Akkordblöcken geprägte Chorsatz deutlich ab von der Textrezitation eines Sprechers. Einige kurze Passagen für Solo-Sopran sorgen für Intensivierung des Ausdrucks. Eindrucksvoll ist die zunehmende Auffächerung des Klangs von acht Chorstimmen zu Beginn bis hin zu 24 Stimmen am Ende. In der letzten Strophe verteilt sich der Chor kreuzförmig symmetrisch im ganzen Raum und nimmt das Publikum als Mitbetroffene in die Mitte. Beide Stücke könnten eine schöne Aufgabe sein für geübte Oratorienchöre.
Andreas Hauff

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