Odeh-Tamimi, Samir
L’Apocalypse Arabe I
für Chor und Ensemble, Partitur
Seitdem ich das mache, verändert sich mein ganzes Denken
, sagt Samir Odeh-Tamimi. Der palästinensisch-israelische Komponist, der in Berlin lebt, hat sich bei diesem Werk zuallererst einmal mit sehr großem Notenpapier eine neue Grundlage für seinen kreativen Freiraum geschaffen, in dem er so großzügig agieren kann, wie er es als Maler seit Jahren kennt.
Gerade diese Texte und die Fantasie-Buchstaben, die wie in Holz geritzt wirken in der berühmten Arabischen Apokalypse von Etel Adnan, diese radikale Poesie durfte er nicht zwischen schmale Notenlinien einklemmen, die seinen Blick verengen. Noch beim Lesen der handgeschriebenen Noten spürt man die grell leuchtende Aura der Poesie, die den Komponisten in Atem hielt. Der Rhythmus aus Arabisch, Französisch, Deutsch, 16-stimmig übereinander, beginnt zu schwingen. Man erkennt, dass die Malerei der Worte und Laute einen Nukleus bildet, aus dem heraus sich Bilder des Grauens entwickeln, wie in Bildern von Brueghel. Diesem radikalen Ausdruck der Poesie von Etel Adnan ist Samir OdehTamimi mit seiner Musik gefolgt. Er verliert sich mit ihnen im zarten Licht und bohrt sich durch verhärtete Oberflächen.
Die ursprüngliche Idee des Klarafestivals in Brüssel war, dass sich Nicht-Christen mit der Bachschen Johannespassion auseinandersetzen. Solche Vergleiche lehne ich von innen her ab!, erklärt Samir Odeh-Tamimi. Er möchte sich nicht über die Zuordnungen zu einem religiösen Ursprung definieren lassen. Der französisch-libanesische Regisseur Pierre Audi formulierte die Anfrage neu: Ob er ein Werk schreiben könne, mit dem er eine Tür zur arabischen Kultur öffne. Sofort schlug er ein Werk über die Apocalypse Arabe von Etel Adnan vor. Diese radikalen poetischen Texte begleiten den arabischen Komponisten seit vielen Jahren. Bilder wie die gelbe Sonne. Eine eiternde Sonne. So ein ekelhafter Zustand. Das ist eine Apokalypse. Eine Passion, erklärt Odeh-Tamimi. Der 46-jährige Komponist und die vor allem im arabischen Raum sehr bekannte und geschätzte 91-jährige libanesische Schriftstellerin und Malerin führen seit Jahren einen intensiven Dialog.
Geschrieben hat Odeh-Tamimi das Werk dann für den Chor und das Orchester, die beim Klarafestival in Brüssel die Johannespassion von Johann Sebastian Bach aufführten. In seiner ganz eigenen Musiksprache verbindet er westeuropäische Musik mit der mündlich überlieferten arabischen Tradition. Der Text wird von den Sängerinnen und Sängern gesprochen. Damit die 16 Sängerinnen und Sänger sich einhören können und die rhythmische Kraft spüren, hat er die Texte selbst gelesen. Die 20 Instrumentalisten loten die Grenzen des Textes aus und dehnen ihn mit großer Dynamik in den Raum hinein. Individuell und farbenreich spielen, heißt es an einer Stelle, an einer anderen immer klingen lassen.
Etel Adnan beschreibt, was sie sieht, was sie empfindet, sagt Samir Odeh-Tamimi. Es geht ihr nicht um Lösungen. Sie sagt, was sie sagen muss!
Margarete Zander