Philippe Manoury
Lab.Oratorium
Rinnat Moriah (Sopran), Tora Augestad (Mezzosopran), SWR Vokalensemble, Lab.Chor, IRCAM, Gürzenich-Orchester Köln, Ltg. François-Xavier Roth
„Menschen sind umgeben von Luft, die sie geatmet haben.“ Über zwei Jahre nach der Uraufführung im Mai 2019 zeigen die Text-Collagen des Regisseurs Nicolas Stemann glasklare Hellsicht. Lab.Oratorium, nach In situ (2013) und Ring (2016) der dritte Teil der Köln-Trilogie des französischen Komponisten Philippe Manoury (geb. 1952), definiert die Metapher des Schiffs auf Lebensfahrt neu: Auf der einen Seite stehen das Frotzeln routinierter Kreuzfahrtgäste in „Ausfahrt und Reise“ (2. Satz) sowie „Geschichten und Cocktails“ (3. Satz), in denen es um Servicelücken und mangelhafte Deutschkenntnisse des internationalen Personals geht. Die Seenot Flüchtender und Angst vor Wohlstandsverlust treiben die Stimmen an die Ufer des extremen Denkens. Lab.Oratorium bezieht sich auf das Kreuzfahrtschiff als Nussschale und das Meer als beängstigenden Schauplatz.
Manoury holte sich die raunende bis schreiende Lyrik dazu von Elfriede Jelinek, Georg Trakl und Ingeborg Bachmann. Dass die neuen Texte ein Netz aus epidemiologischen Wortfeldern über die globalen Gegenbewegungen von Flüchtlingsströmen und Massentourismus legten, als die Welt im Verborgenen Corona ausbrütete, dürfte dem zu kreativer Mitschöpfung angehaltenen Leitungsteam dieser großartigen Gesamtleistung nicht klar gewesen sein. Riesig sind die Klangmassen durch Mitwirkung des SWR Vokalensemble, IRCAM und dem aus Laien zusammengestellten, mit umfangreichen Aufgaben betrauten Lab.Chor.
In seinen von Percussions angetriebenen Melodramen für die Schauspieler Patrycia Ziolkowska und Sebastian Rudolph sowie die in der Tradition Alban Bergs stehenden Vokalpartien bezieht sich Manoury auf die Anfang des 20. Jahrhunderts wiederentdeckte Gattung des szenischen Oratoriums. Dieser Werkplan fordert zur inhaltlichen wie formalen Grenzöffnung heraus und entwirft eine musikdramatisch gespiegelte Realsituation, die sich von früheren metaphysischen, sakralen und sozialistischen Utopien der Gattung löst. Schon vor den pragmatischen Zwängen der Pandemie komponierte Manoury für eine Orchesteraufstellung, die von der über zwei Jahrhunderte dominierenden Ordnung der Mannheimer Schule abweicht.
Alles ist im Fluss: Die Wasser- und Landregionen des „Mare Nostrum“ zeigen sich durch haushohe Klangwogen und trügerische Ruhezonen. Manourys und Stemanns Dramaturgie beinhaltet improvisierende Freiräume zwischen aktiver Elektronik, professionellen Mitwirkenden und Laien-Partizipation. Sie enthält ein Paradox mit internationalem Spaltungspotenzial: Innerhalb der einen Welt fordern Vermögende neue mobile und variable Grenzen, die sie von den existenziell Bedrohten und internationaler Lohnsklaverei schützen. Der zehnte und letzte Satz „Abfahrt“ sammelt die zerklüftenden Fragestellungen des nächsten Jahrzehnts in der Bipolarität eines Jargons, gegen den Musik machtlos ist.
Gürzenich-Kapellmeister François-Xavier Roth und der für die computermusikalische Realisation verantwortliche Thomas Goepfer pflegten einen kooperativen Leitungsstil.
Roland Dippel