Werke von Antonio Vivaldi, Baldassare Galuppi und Tomaso Albinoni

La Venezia di Anna Maria

Midori Seiler (Violine), Concerto Köln

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Berlin Classics
erschienen in: das Orchester 11/2018 , Seite 70

Der Musikfreund, der von San Marco zum Canale läuft, links um die Ecke biegt und den Ponte di Paglia überquert, ohne sich den vielen Menschen zu widmen, die die berühmte Seufzerbrücke fotografieren, hat meist nur ein Ziel: die Chiesa und das „Ospedale della Pietà“. Der relativ kleine Barockbau, dessen Charme der Jahrhunderte kaum durch neuzeitliche Renovierungen dezimiert worden ist, und das heute als Museum zugängliche, dazugehörige ehemalige Mädchenwaisenhaus stehen direkt am Canale di San Marco. Jeder, der etwas über Antonio Vivaldi gelesen hat, kennt es, denn für das Mädchenorchester dieser Klosterschule schrieb der Italiener die meisten seiner Solokonzerte.
Über 25 sind allein für den Star dieses Internats überliefert: Anna Maria, die als „Anna Maria dal Violin“ in die Musikgeschichte einging. Ihr vollständiger Name ist unbekannt, sie wurde vermutlich 1696 geboren und bald darauf anonym im Waisenhaus abgegeben. 1721 wird sie von Männern als Geigerin gepriesen, die „von Virtuosen unseres Geschlechts wenig ihres gleichen hat“. Sie starb hochbetagt 1782 und verbrachte ihr ganzes Leben im Dienst des Ospidale della Pietà. Erhalten blieb ein 160 Seiten umfassendes, handgeschriebenes Notenbuch, in dem sich die meisten der für sie geschriebenen Konzerte befinden. Eine Besonderheit: Die Verzierungen vor allem der langsamen Sätze stammen von ihrer Hand.
Die Geigerin Midori Seiler, bewandert im Umgang mit historischen Quellen, stellt nun zusammen mit dem Ensemble Concerto Köln vier dieser Konzerte (darunter auch das „Weihnachtskonzert“ RV 270a) auf einer Doppel-CD vor: ein wahres musikalisches Schatzkästlein, das Strawinskys Unkenruf vom gleichen Konzert, das Vivaldi 500 Mal komponiert habe, nur für jenen bestätigt, der taub ist für den unglaublichen Variantenreichtum einer Musik, die nicht für jedes Stück eine neue Technik oder einen neuen Effekt erfinden musste. Es reicht ein Blick auf die Lagune, und man weiß, woraus sich Vivaldis Fantasie speiste: Es ist immer das gleich Licht und doch ist es stets verschieden.
Midori Seiler zelebriert mit hellem, feinem Ton jede Nuance des Soloparts. Ihr Triller ist wie ein Flimmern auf dem Wasser, die Leichtigkeit ihres Tons wie der Flügelschlag einer über die Wellen fliegenden Möwe. Sie gibt den Concerti ein liebreizendes, aber keineswegs einfältiges Gesicht: dass man über die Alpen nach Venedig reiste, nur um Anna Maria live zu hören – kein Wunder!
Concerto Köln unter Leitung der Konzertmeisterin Mayumi Hirasaki assistiert mit filigraner Leuchtkraft und garniert die Solokonzerte mit fünf weiteren Concerti von Vivaldi, Galuppi und Albinoni – eine Platte also mit rein venezianischem Programm. Großartig!
Matthias Roth