Emile Jaques-Dalcroze

La Veillée

Sophie Graf (Sopran), Annina Haug (Alt), Valerio Contaldo (Tenor), Benoit Capt (Bariton/Bass), Le Chant Sacré Genève, L’Orchestre de Chambre Genève, Ltg. Romain Mayor

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Claves
erschienen in: das Orchester 06/2020 , Seite 70

Emile Jaques-Dalcroze: In der Westschweiz, in Hellerau bei Dresden und bei dem einen oder anderen Rhythmik-Studierenden wird der Name mehr oder weniger bekannt sein. Aber sonst? Schweizer Komponist? Nie gehört! Jaques-Dalcroze begründete die rhythmische Gymnastik und legte den Grundstein für die wissenschaftliche Rhythmik, wie sie heute zu einem festen Bestandteil der Studien an den Musikhochschulen geworden ist. Mit seiner zugrundeliegenden Philosophie einer Wechselbeziehung von musikalischen, körperlichen und emotionalen Erfahrungen griff er in eine Gedankenwelt, die in jener Zeit gewissermaßen in der Luft lag: Obwohl etwaige Verbindungen zwischen ihm und Rudolf Steiner zwar möglich, aber bis heute nicht erwiesen sind, unterhält seine Rhythmik-Auffassung einen irgendwie „unterirdischen“ Kontakt zur Steiner’schen Eurythmie-Ansicht.
„In der Luft“ lag denn auch, ganz Kind seiner Zeit, sein Kompositionsstil: Seine oratorienhafte, genial instrumentierte „Suite lyrique“ La Veillée, in der Erstfassung 1893 entstanden und hier erstmals in Auszügen veröffentlicht (eine andere Veröffentlichung mit weniger Auszügen erschien 2018 beim Label Sterling Records), erinnert stark an Ermanno Wolf-Ferrari (und besonders dessen Campiello), scheint Einflüsse von Jules Massenet (Scènes Alsaciennes) mit aufzunehmen, ist überhaupt dem Verismo, der französischen Schule, aber auch der deutschen Spätromantik (Engelbert Humperdinck) verpflichtet. Im neunten Track („Trois Fendeux“) mag man sogar einen Tristan-Anklang heraushören … Das alles aber hat nichts mit Eklektizismus zu tun, denn Jaques-Dalcroze hat durchaus eigene Ideen, eine eigene, originale wie originelle Musiksprache (die sich, angesichts seines sonstigen rhythmischen Interesses, erstaunlich wenig rhythmusbetont gibt). Das Beste, das man über diese Musik äußern kann: Sie ist einfach nur schön (bei gelegentlichen, seltenen Abgleitungen ins leicht Kitschige: Spitzendeckchen auf Chippendale plus Elfenreigen an der Wand …; aber das ist schon wieder Geschmacksache). Die Ausführenden agieren durchaus fehlerfrei bis großartig (welches Attribut vorzüglich dem Chant Sacré Genève zukommt, der die märchenhafte Handlung märchenhaft interpretiert). Und auch Roman Mayor „fairytailt“ mit dem Orchestre de Chambre de Genève in überzeugender Manier. An dem elegant aufgemachten Beiheft ist freilich zu kritisieren, dass es leider auf den Abdruck der Texte verzichtet und dass es (ist die Schweiz nicht viersprachig?) die viel zu wenigen Informationen sowohl zu dem Komponisten als auch zum vorliegenden Werk nur auf französisch und Englisch anbietet. Und, fragt man sich insbesondere bei einer Erstveröffentlichung, warum geschieht dieses nur auszugsweise? Ein paar Worte dazu und zu den Auswahlkriterien im Beiheft hätten Klarheit geschaffen.
Friedemann Kluge