Elliott Carter

La Musique

Swiss Chamber Soloists

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Genuin
erschienen in: das Orchester 07-08/2021 , Seite 75

„Es lebe die Musik. Sie reißt einen mit wie ein Meer…(und) bringt die Leidenschaften zum Vibrieren“, dichtete Charles Baudelaire in seinen Fleurs du Mal. Elliott Carter nimmt das Sonett, kleidet es in eine Melodie, deren Töne die natürliche Sprechmelodie über höhen und dramatisieren und die aufführende Sopranistin vor die Gewissensfrage stellen, wie emotionsgeladen sie den Dreiminüter angehen möchte. Sarah Wegener lässt sich auf das Pathos des Texts ein, dämpft es ein wenig, aber nicht zu stark ab: eine schlüssige Interpretation.
Auch den Zyklus Poems of Louis Zukofky (2008) für Klarinette und Sopran prägt Wegener mit ihrer klaren Stimme, die ihr musikalischer Partner, der Klarinettist Sergio Pires, mit Melodien umgarnt, die dank ihrer großen Sprünge und eigenständigen Rhythmik an die Schönheit des morgendlichen Vogelgezwitschers erinnern. Auch Melodie und Rhythmik der Gesangsstimme sind relativ sprunghaft angelegt und verstoßen insbesondere an bedeutungsvollen Textstellen gegen dessen natürliche Diktion.
Ansonsten stellt die CD kammermusikalische Instrumentalwerke vor, die entweder dem Zeitraum um 1950 oder dem aktuellen Jahrhundert entstammen. Den Reigen eröffnen die Miniaturen seiner Eight Etudes and a Fantasy (1950) für Flöte, Oboe, Klarinette und Fagott. Acht Mal setzt Carter einen Grundgedanken zur Organisierung der Töne um: mal einen Dreiklang, dessen einzeln angeblasene Töne sich umkreisen und ständig neue Klangfarben bilden, mal ein Zweiton-Motiv, das sich in einem vergnügten Reigen durch die Instrumente tummelt und in ständig neuen Klangschichten mündet. Oder, ganz minimalistisch: ein Ton, der durch unterschiedliche Spieldauer auf den einzelnen Instrumenten an- und abschwillt. Die Antwort folgt im nächsten Teil, einem Gewimmel, aus dem einzelne Bewegungen herausstechen. Der Schlusssatz, die fast sechsminütige „Fantasy“, vereint fein verwobene Erinnerungen an das Gehörte mit Neuem.
Das rund 60 Jahre später entstandene String Trio (2011) und Nine By Five (2009) wirken ebenso wie das Stück Retracing II (2009) für Horn solo weniger sprunghaft und dafür etwas klangverliebter.
Als er diese Stücke schrieb, hatte der am 11. Dezember 1908 geborene Komponist bereits sein hundertstes Lebensjahr überschritten. Diese Werke wurden erst nach Carters Todestag, dem 5. November 2012, in den Jahren 2014 und 2020 eingespielt. Der zu Carters früheren Werken zählende erste Satz seiner unvollendeten Sonatina für Oboe und Cembalo (1947), ein heiteres, neutönerisch melodiöses Werk mit eng verzahnter Linienführung, wurde indessen zu seinem hundertsten Geburtstag uraufgeführt. Als Schlussnummer schließt es den Kreis zum Eröffnungsstück.
Reißt Carters Musik nun – um zu Baudelaire zurückzukehren – den Hörer mit wie das Meer und bringt die Leidenschaften zum Vibrieren? Bei mir stellte sich diese Wirkung nicht ein. Wohl aber faszinierte mich, wie Carter mit kühlem Kopf und Spaß an weiträumigen Bewegungen Stücke schrieb, die ihre Schönheit erst nach mehrma-
ligem Hören entfalten.
Werner Stiefele