Grétry, André-Modeste

La Caravane du Claire

Katia Velletaz, Cyrille Dubois, Tassis Christoyannis, Julien Véronèse, Reinoud van Mechelen, Alain Buet, Jennifer Borghi, Chantal Santon, Caroline Weynants, Les Agrémens, Chœur de Chambre de Namur, Ltg. Guy van Waas

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Ricercar RIC 345
erschienen in: das Orchester 04/2015 , Seite 78

Paris in den 1770er Jahren: Es herrscht – nicht zum ersten Mal – Opernkrieg. Parteigänger Glucks und Piccinnis bilden die Fronten, Reformoper und Opéra comique stehen einander unversöhnlich gegenüber. Beiden Lagern distanziert zu begegnen, rät der sorgenvolle Leopold Mozart 1778 seinem just in Paris weilenden Sohn und ergänzt: „Freunde dich auch nicht mit Grétry an!“
Neben den beiden Kontrahenten war André-Ernest-Modeste Grétry, in Lüttich geboren und seit 1767 in Paris ansässig, die dritte Instanz auf dem Gebiet des Musiktheaters. Im Gegensatz zu Gluck und Piccinni strebte Grétry nach Gestaltungsformen, in denen Ausdrucksmittel der Tragödie, der komischen Oper und des Tanzes miteinander in Verbindung treten: Er kreierte die Mischform der Comédie lyrique – ein Konzept, das einschlug. Seinen größten Erfolg erzielte Grétry mit der 1783 uraufgeführten Oper La Caravane du Caire. Vor der Kulisse eines fantasiegeborenen Ägyptens platziert, bietet das Werk alles, was das Herz damaliger Opernbesucher erfreut haben dürfte: eine zündende Ouvertüre, dankbare Gesangspartien, farbige Rezitative, Arien und Ballettmusiken, teilweise gewürzt mit Exotismen in quasi-orientalischem Ton. Überdies wurde der Chor „La victoire est à nous“ wenig später während der Revolutionsjahre ein patriotischer Hit. Bis in die Zeit Rossinis und Meyerbeers sind etwa 500 Aufführungen des populären Werks in Paris verbürgt.
Die vorliegende Produktion des Werks bereitet schon „haptisch“ Vergnügen: Wir halten ein Buch in der Hand, das neben dem Libretto und vielen Abbildungen rund um die Premiere des Werks vorzügliche Texte zur Entstehungs- und Aufführungsgeschichte enthält. Das Vergnügen setzt sich beim Hören der CDs unvermindert fort: Die beiden renommiertesten Barockensembles der Wallonie – das Orchester „Les Agrémens“ und der Kammerchor Namur – bieten historisch informiertes Musizieren in Bestform: lebendig, atmend, blitzsauber, perfekt in Balance und Phrasierung. Dirigent Guy van Waas verfügt über das richtige Gespür für Tempi und Gesten dieser Musik: Sie spricht die Sprache der Klassik, basierend auf der Tradition sowohl der italienischen Oper als auch unüberhörbar derjenigen Rameaus.
Bedauerlicherweise informiert das ansonsten opulente Begleitbuch nicht über die Gesangssolisten. Sie hätten es verdient: Von Katia Velletaz und Cyrille Dubois – den Interpreten des am Ende glücklich vereinten Sklavenpaares Zélime und Saint-Phar – bis hin zum kernigen Bass von Julien Véronèse – er singt Osman, den zuerst melancholischen, dann verliebten, zuletzt friedenstiftenden Pascha – hören wir ausschließlich exzellente Stimmen und ausgeprägte Rollenprofile.
Viele unterstützende Kräfte und Institutionen werden im Booklet genannt. Allen sei Dank für diese erfrischende Produktion. Sie ist Teil einer Serie, die gemeinsam mit der Oper von Lüttich produziert wird und sich auf vergessene Werke des französischen Repertoires aus dem 18. Jahrhundert spezialisiert. Mehr davon!
Gerhard Anders