Martin Rempe

Kunst, Spiel, Arbeit

Musikerleben in Deutschland, 1850 bis 1960. Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Bd. 235

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Vandenhoeck & Ruprecht
erschienen in: das Orchester 04/2020 , Seite 62

Wer womöglich meint, die größten Strukturveränderungen für Orchester und Musiker in Deutschland habe es in den vergangenen dreißig Jahren seit der deutschen Wiedervereinigung gegeben, der wird seine Bewertung revidieren müssen. Allein Aufstieg und Niedergang der Militärmusik oder das Entstehen und Verschwinden hunderter Kino-Orchester sind nur zwei Beispiele für viel gravierendere Umbrüche für Berufsmusiker der vergangenen 150 Jahre.
Martin Rempe, Privatdozent für neuere und neueste Geschichte an der Universität Konstanz, beginnt seine Darstellung um 1800 und beschreibt anschaulich verschiedene Keimzellen des Musikerberufs: Militärmusik, Stadtpfeifereien, städtische Orchestergründungen, Hofkapellen, aber auch fließende Übergänge aus dem Bereich der Amateurmusik. Das Entstehen erster Interessengruppen der Musiker, Musiklehrer und Komponisten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wird ebenso beleuchtet
wie die Ausbildung und Ausbeutung junger Musiker in Lehrverhältnissen, die Rolle von Frauen im Musikleben oder der Aufstand von Musikern gegen ausbeuterische oder despotische Kappellenleiter und Dirigenten.
Breiten Raum nimmt der harte Konflikt der Zivilmusiker gegen die Militärmusiker vor allem zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein. Sehr interessant sind die Ausführungen zur Bildung unterschiedlichster Verbände, die ihre Lobbyarbeit in Öffentlichkeit und Politik immer weiter ausbauten, aber auch vor wechselseitigen Grabenkämpfen nicht zurückschreckten. Die Entstehung der Stummfilm-Kinos, die teilweise große sinfonische Begleitorchester beschäftigten, die Entwicklungen von Schallplatte und Rundfunk beeinflussten maßgeblich die Arbeitswirklichkeit von Musikern und boten neue Beschäftigungsmöglichkeiten, ließen aber auch bisherige in kurzer Zeit verschwinden.
Der erste Flächentarifvertrag für Orchestermusiker mit dem Deutschen Bühnenverein im Jahr 1920 markiert einen Meilenstein für den fortschreitenden sozialen Aufstieg von festangestellten Musikern. In den 1920er Jahren entwickeln sich Tanz-, Jazz-, und Unterhaltungsmusik als weitere Tätigkeitsfelder für professionelle Musiker. Weltwirtschaftskrise, Nationalsozialismus, Zweiter Weltkrieg und Nachkriegszeit bringen zahlreiche existenzielle Herausforderungen. Rempe beschreibt auch die Umstände der Gründungen der Deutschen Orchestervereinigung (1952 und nicht erst 1953) und der GVL (1959).
Fazit: Man muss Martin Rempe nicht in allen Bewertungen folgen; dennoch: ihm ist ein umfassend recherchiertes Buch zur Entwicklung des Musikerberufs seit dem 19. Jahrhundert gelungen. Die Darstellung bislang kaum beachteter Fakten, Details und Zusammenhänge des sozialen Auf und Ab eines heterogenen Berufsstandes sowie ein flüssiger Schreibstil machen das Buch zu einer sehr spannenden und empfehlenswerten Lektüre.

Gerald Mertens