Andrea Will

Kunst des wertschätzenden Feedbacks

Guter Rat für junge Dirigent:innen: Das Kritische Orchester probt wieder in Berlin

Rubrik: Zwischentöne
erschienen in: das Orchester 12/2022 , Seite 38

Nomen est omen – besser kann man die Projektidee des Kritischen Orchesters in Berlin nicht auf den Punkt bringen: Im März 2023 erklingt es wieder, das Orchester aus aktiven und ehemaligen Orchestermusiker:innen, die sich ohne Honorar treffen, um drei Tage lang junge Dirigent:innen zu fördern, zu coachen und sie von ihren Erfahrungen profitieren zu lassen. Ein Dirigierkurs, der ausschließlich auf dem Feedback und den Rückmeldungen der Musiker:innen aus dem Orchester beruht, ist ein in Deutschland einzigartiges Projekt.
Man könnte sich fragen, ob das möglicherweise Orchestermusiker:innen große Freude bereitet und Dirigent:innen eher weniger. Aber weit gefehlt, die Motivation liegt anders. Lothar Strauß, seit 2014 Künstlerischer Leiter des Projekts und Konzertmeister in der Staatskapelle Berlin sowie Professor an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien, spricht aus langjähriger Erfahrung: „Es ist mein Wunsch, einen Platz zu haben, wo man eine Arbeitsat­­­mo-­sphäre schaffen kann. Das wird – soweit mir das bekannt ist – in keinem Meisterkurs erreicht und auch in keiner Probe mit einem Profi-Orchester. Einfach weil Dirigent:innen dort kaum Feedback von den Musiker:innen bekommen. Hier begegnen wir uns auf Augenhöhe und versuchen, den Dirigent:innen so konstruktiv wie möglich zur Seite zu stehen, damit sie sich so schnell wie möglich verbessern.“
Ihm ist das Projekt trotz vollen Terminkalenders zur Herzenssache geworden: „Ich würde mir wünschen, dass das Kritische Orchester mich überdauert; dass es ein Platz bleibt, wo Diri­gent:innen keine Angst vor dem Orchester haben müssen und deshalb vielleicht auch in ihrer späteren Laufbahn keine Angst verbreiten. Denn wer einmal Angst erfahren hat, gibt sie irgendwann auch weiter. Das ist ein Teufelskreis, den ich hier unbedingt durchbrochen haben möchte. Und wenn wir das hier schaffen, ist schon viel erreicht. Ich möchte gern Simon Rattle zitieren: ‚Ich mag den Klang der Angst nicht.‘ Wenn wir dazu beigetragen haben, dass es ein paar mehr Dirigentinnen und Dirigenten gibt, die in diese Richtung gehen, dann wäre ich schon sehr glück­lich.“
Die Mitglieder des Kritischen Orchesters kommen nicht ausschließlich aus Berlin. Neben den Berliner Philharmonikern, den Berliner Symphonikern und der Staatskapelle Berlin sind u. a. die Dresdner Philharmonie, das Gewandhausorchester Leipzig, das Gürzenich-Orchester Köln, die Hofer Symphoniker und das Beethovenorchester Bonn vertreten. Viele Teilnehmende gehören zur Stammbesetzung und haben sich nach zweijähriger Zwangspause schon sehr auf die Proben gefreut. So konnte im vergangenen März mit aufwändigem Corona-Testmanagement ein Programm mit Sinfonien von Schubert, Haydn und Beethoven in der Hochschule für Musik Hanns Eisler einstudiert werden. 14 Dirigentinnen und Dirigenten probten und interpretierten die Werke mit eigener Handschrift und unterschiedlicher Herangehensweise. Das war nicht nur ein Kraftakt für das Orchester, das sich immer wieder auf neue Dirigent:innen einstellen musste, sondern dazu auch eine mentale Anstrengung, konstruktiv in aktivem Dialog zu bleiben und Feedback zu kommunizieren.
Hans Martin Müller, ehemaliger Soloflötist des WDR Sinfonieorchesters Köln und schon mehrfach beim Kritischen Orchester aktiv, meint dazu: „Dirigent:innen kritisieren dürfen (und das nicht nur mehr oder weniger leise im Kollegenkreis, sondern direkt öffentlich während der Probe), was für eine neue Erfahrung! Erstaunlicher noch, direkt zu erleben, dass dasselbe Orchester im selben Saal mit demselben Werk unter jeder Dirigentin oder jedem Dirigenten tatsächlich sofort ganz anders klingt, wohl auch, weil das Orchester durch seine Zusammenstellung eben keine gemeinsame Art hat, ein Werk zu interpretieren. Ein wundervolles Erlebnis und ein großer Spaß, bei so einem Projekt mitzuwirken.“
2002 von Klaus Harnisch und Christhard Gössling gegründet, ist das Kritische Orchester als Institution zwischen der Hochschule für Musik Hanns Eisler und dem Forum Dirigieren des Deutschen Musikrats in der Dirigentenszene eine feste Größe geworden. Mit 190 Dirigent:innen gab es noch nie so viele Bewerbungen für das Kritische Orchester wie 2022. Jakub Przybycien΄, Student an der Zürcher Hochschule der Künste, freut sich, dass er eingeladen wurde: „Die wunderbaren drei Tage in Berlin mit dem fantastischen Kritischen Orchester waren eine gegenseitig inspirierte musikalische Reise. Die Menge an Wissen, die wir jungen Dirigierstudierenden von unseren älteren Kolleginnen und Kollegen erhalten konnten, war immens. Die Art und Weise, wie die Musiker:innen uns ansprachen, war konstruktiv, da wir alle wollten, dass unser musikalisches Werk so gut wie möglich klingt, und die Musiker:innen wollten auch unsere Kommunikation verbessern, um uns in Zukunft Stress zu ersparen. Mit großer Freude empfehle ich diese Meisterkurse allen jungen Dirigent:innen, die von wirklich wunderbaren und sehr erfahrenen Musiker:innen lernen wollen.“
Das Forum Dirigieren ist das Förderprogramm des Deutschen Musikrats für den dirigentischen Spitzennachwuchs in Deutschland. In den Sparten Orchesterdirigieren und Chor­dirigieren werden durch Meisterkurse junge Talente gefördert und die künstlerische Begegnung der jungen Generation mit renommierten Dirigentenpersönlichkeiten ermöglicht. Die Stipendiatinnen und Stipendiaten des Forums durchlaufen ein umfangreiches Arbeitsprogramm mit professionellen Orchestern und Chören, die Vermittlung von Assistenzen, Förderkonzerten, Preisen und Stipendien ist weiterer Bestandteil der Förderung. Zudem richtet das Forum den Deutschen Dirigentenpreis in Köln und den Deutschen Chordirigentenpreis in Berlin aus.
Neue Kolleg:innen sind im Kritischen Orchester, das auch durch unisono, Deutsche Musik- und Orchestervereinigung gefördert wird, vom 9. bis 12. März 2023 in Berlin willkommen. Auf dem Programm stehen Schuberts 5., Haydns 103. und Beethovens 4. Symphonie.