Brandl-Risi, Bettina / Clemens Risi / Komische Oper Berlin (Hg.)

Kunst der Oberfläche

Operette zwischen Bravour und Banalität

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Henschel / Komische Oper Berlin 2015
erschienen in: das Orchester 01/2016 , Seite 69

Der humorlose Kultur- und Musikphilosoph Theodor W. Adorno betrachtete Operetten als „abscheuliche Ausgeburten“ und monierte ihre Oberflächlichkeit. Doch gerade an den Oberflächenäußerungen glaubte der Kulturkritiker Siegfried Krakauer den Grundgehalt einer Epoche und ihrer Kultur erkennen zu können. Für die Gattung Operette ist „Oberfläche“ Metapher und Konzept zugleich, wie Clemens Risi, einer der beiden Leiter des diesjährigen Operetten-Symposions der Berliner Komischen Oper, betont. Das von ihm und seiner Frau Bettina Brandl-Risi herausgegebene Buch, in dem die Ergebnisse des Symposiums nachzulesen sind, macht deutlich, dass „Oberfläche“ durchaus große Kunst sein kann, eben Operettenkunst. Was die sogenannte „Oberfläche“, die der Gattung Operette ihre Popularität beschert, ausmacht, sind Plots, die dicht am Puls der Zeit liegen und die Sehnsüchte des gewöhnlichen Menschen bedienen, allerdings auch Kritik an bestehenden gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen ermöglichen. Auch das „Austesten und Übertreten von kulturellen Grenzen, Grenzen des Moralischen und des guten Geschmacks“ lasse „,diese Oberflächen so reizvoll funkeln“, so Risi. Daneben gehörten „eindeutige sexuelle Anspielungen und Verwirrung der Geschlechterrollen durch Cross-Dressing“ (Travestie) zu den genrebestimmenden Ingredienzien der Gattung.
Musikalisch fasziniert die Operette mit ihren Montagen von klassischen Opernorchestern mit Jazz-Band und Blaskapelle und der fröhlichen Mixtur aus Oper, Singspiel, Chanson, Volkslied und modischen Tänzen der Zeit. Ihr Erfolgsrezept ist die Mischung aus Banalem und Virtuosem. Barrie Kosky, Hausherr der Komischen Oper Berlin, weist in seinem Beitrag denn auch darauf hin, dass die Operette beispielhaft demonstriert, wie absurd die Unterscheidung zwischen E- und U-Musik ist und dass das Jahr 1933 den Wendepunkt markiert, „an dem der künstlerischen Durchdringung von Hochkultur und Unterhaltung ein Ende gesetzt“ wurde. Es war das Ende der Operette als gesellschaftskritisches, heiter-satirisches Musiktheater aus dem Geist Jacques Offenbachs, woran Kevin Clarke erinnert.
Der 224 Seiten starke Band bringt sowohl akademisch wie theaterpraktisch alle wesentlichen Aspekte der schillernden Gattung Operette zur Sprache. Um die Frage der Aktualität von Operette heute geht es im letzten Kapitel des Buchs. Am engagiertesten äußern sich Performer der Gruppe Interrobang, die während des Symposiums auftraten. Lajos Talamonti konstatiert: „Die Operette entführte uns einst in surreale Wunderbarkeiten, verhalf uns zu heiterer Ausschweifung, zu Erleichterung durch Selbstironie, hielt uns den Spiegel vor und das, was wir sahen, war […] gutmütig komisch. Wer heute in den Spiegel sieht, erschrickt vor der verhärmten humorlosen Trostlosigkeit, die ihm entgegenblickt. Die sogenannte Gegenwart ist nichts als ein tribales Horden-Bum-Bum.“ Die Performerin Verena Unbehaun hat das Schlusswort des Buchs: „Ich plädiere für […] die Rettung durch Operette. Gegen Depression, Langeweile, Stress, Frust, Schlaflosigkeit, Überforderung! Operrettung für alle!“
Dieter David Scholz