Gernot Gruber

Kulturgeschichte der europäischen Musik

Von den Anfängen bis zur Gegenwart

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Bärenreiter/Metzler, Kassel/
erschienen in: das Orchester 05/2021 , Seite 72

Es gibt bereits zahlreiche Musikgeschichten, beginnend mit
Guido Adlers Handbuch der Musikgeschichte aus dem Jahr 1929, dann z.B. Karl Wörners Geschichte der Musik (1954) und viele Kulturgeschichten, angeführt von Egon Fridells Kulturgeschichte der Neuzeit (1927). Ist Fridells Buch fast wie ein Roman zu lesen, so konzentriert sich Wörner auf eine knappe sachliche Zusammenfassung. Adlers Buch zielt in die Mitte zwischen Wissenschaft und literarischer Erkundung.
Gernot Gruber orientiert sich an Adler und bietet als Opus summum seiner lebenslangen Forscherarbeit viel mehr als eine reine Musikgeschichte: In seinem Buch geht es um die Zusammenhänge zwischen Kultur und Musik. Dabei werden vielfältigste Beziehungen gezeigt: zu Religion, Politik, Gesellschaft, Literatur und Kunst, Wissenschaft und vielem mehr. Zwar steht die Kunstmusik im Mittelpunkt. Doch genauso ernst nimmt Gruber die Popularmusik bis hin zu Pop, Rock und Rap.
Kultur und Musik von den Anfängen bis heute ist ein riesiges Feld, das zu überschauen allein schon eine bewundernswerte Leistung darstellt. Da ist es sinnvoll, diese Kulturgeschichte auf Europa zu begrenzen. Allerdings kann dieses Buch keineswegs als „eurozent-
risch“ kritisiert werden, denn Gruber bezieht außereuropäische Musik ein, wann immer sie für Europa wichtig wurde.
Sicherlich kann man heute keine Musikgeschichte mehr in einer ungebrochenen „Naivität“ schreiben wie das zu Beginn des 20. Jahr-
hunderts vielleicht noch möglich schien. Gruber hat sich intensiv mit Geschichtstheorien und Methodendiskussion befasst. Es macht sein Buch zwar schwerer lesbar, aber umso interessanter, dass er jeweils konkret zu den kulturgeschichtlichen Abschnitten reflektiert, wie
er zu seiner eigenen Darstellung gelangt.
Bei der frühen Geschichte ist es für den Leser etwas frustrierend, wenn er häufig vom Autor gesagt bekommt, dass das Wesentliche mangels Quellen – etwa über die Musik der alten Griechen – nicht gesagt werden kann. Doch streng wissenschaftlich enthält sich Gruber jeglicher Spekulation.
Besonders reich wird der Leser dann in den Kapiteln über die Musik ab dem 18. Jahrhundert mit Erkenntnissen und Einblicken beschenkt. Wohltuend ist, dass sich Gruber einer moralischen Be- oder Verurteilung enthält, sei es bei der Unterhaltungsmusik, sei es bei der Nazizeit.
Dieses Buch ist eine wertvolle Schatzkammer für jeden, der sich für Musik und Kultur interessiert. Es lädt zu lebenslangem Nachschlagen ein. Aber man kann es auch als Ganzes lesen, wenn man die dazu nötige Kondition hat, nicht nur intellektuell, sondern auch physisch: Die 836 ziemlich klein bedruckten Seiten wiegen über 1,6 Kilogramm. Adlers Musikgeschichte erschien in drei Bänden. Wer Grubers Buch bequemer lesen will, dem sei die
E-Book-Ausgabe empfohlen. Fazit: nicht optimal hergestellt, aber
inhaltlich außergewöhnlich.
Franzpeter Messmer