Jan Assmann
Kult und Kunst
Beethovens Missa Solemnis als Gottesdienst
Das Beethoven-Jahr bescherte dem Leser eine Vielzahl neuer Bücher, die sich durch ihre theoretische Fundierung und Zielsetzungen unterscheiden. Es fällt auf, dass es zunehmend nicht nur kritische und hinterfragende Sichtweisen sind, die einen Blick auf den Komponisten jenseits von überkommenen romantisierten Idealisierungen ermöglichen sollen. So wird man auch mit Büchern konfrontiert, deren Hauptaugenmerk auf einer kulturellen Rezentrierung mit teilweise missionarischen Zügen liegt: Dem konservativen Bildungsbürgertum soll argumentative Fundierung in einer Abwehrhaltung gegenüber kritischen, aufgeklärten Sichtweisen geboten werden.
Dies scheint auch die Intention von Jan Assmann zu sein, der die Missa solemnis und das von ihm propagierte kulturelle Umfeld des Komponisten in Traditionen zu verorten versucht, die er primär in einer wenig in die Tiefe gehenden christlich zentrierten Kulturdefinition für Europa sehen will. Deren Entwicklungslinien versucht er, parallel zu anderen traditionalistischen und teilweise populistischen Sichtweisen, über jüdische Wurzeln hinaus bis in die Religion Ägyptens zurückzuführen. Wie der Autor selbst sagt, geht es ihm um ein „Entneutralisieren“ des Kunstwerks Missa solemnis.
Das Buch ist zweigeteilt, wobei Assmann mehr als die Hälfte einer sehr allgemein gehaltenen Geschichte des christlichen Kults und der christlichen Künste widmet. Der Rest stellt primär eine Werkbeschreibung auf der Basis bisheriger Abhandlungen dar, ohne dass der Autor hierbei eigene Erkenntnisse hinzuzufügen vermag.
Der prägnant formulierte Eurozentrismus von Assmanns Thesen erinnert teilweise an die kulturelle Hegemonie des europäischen Nationalismus, die durch die Kolonisierung und Vereinnahmung der Antike eine angebliche Überlegenheit der westlichen Kultur postuliert. Auch die Terminologie Assmanns knüpft an entsprechende Sichtweisen an, etwa wenn er konsequent von der Kultur des „Abendlandes“ spricht, einem Synonym, das wie kein anderes für eine Übernahme, Rettung und Weiterentwicklung eines ansonsten verloren geglaubten morgenländischen Erbes steht.
Ebenso rückwärtsgewandt und durch die kritische Forschung widerlegt sind Assmanns Aussagen zur Singularität der europäischen Künste, besonders hier der polyfonen Musik, als westliche, aus dem christlichen Kult erwachsene Errungenschaft mit einem Anspruch auf Schönheit, die anderen Religionen und Kulturen fremd sei. In seiner Argumentation greift der Autor häufig auf ältere einführende Texte zurück, deren Plakativität nicht nur als überholt, sondern heute als unangemessen vereinfachend gelten muss. Das intellektuelle Umfeld von Beethoven, das vielschichtige Wien der Aufklärung, wird hingegen kaum thematisiert.
Der eigentliche Kern von Assmanns Buch, auf 20 Seiten am Ende seiner Ausführungen zu finden, ist ein Widerspruch zu Adornos aufgeklärter Kritik der Missa solemnis, welche die Autonomie des Kunstwerks und christliche Textgebundenheit der Messe nicht würdige.
Volker Schier