Christine Fornoff-Petrowski

Künstler-Ehe

Ein Phänomen der bürgerlichen Musikkultur

Rubrik: Rezension
Verlag/Label: Böhlau
erschienen in: das Orchester 9/2022 , Seite 62

Wie ein flächendeckendes, raumfüllendes Puzzle mit auf mehreren Quadratmetern verteilten, teilweise gestapelten, kleinen, einander ähnlich sehenden, gleichzeitig vielfältig unterschiedlichen Einzelteilen liegt diese Forschungsarbeit vor den Lesenden. Hier wurde eine enorme Menge an Quellen – von Bildern über Romane, Fragebögen, Ehetagebüchern, Karikaturen, Programmheften, Selbstzeugnissen, Erzählungen, Zeitschriften und mehr – gesichtet, sortiert, kategorisiert, kommentiert und einander zugeordnet. Die schiere Masse ist beeindruckend und zollt Respekt.
Ziel der Arbeit war es, herauszufinden, welche „Denkmuster das Phänomen Künstlerehe strukturierten. Es gilt deutlich zu machen, dass diese in der Vergangenheit kulturell geformt, also von Menschen gemacht wurden und damit nicht zwangsläufig oder natürlich so sein müssten“ (S.22). Dafür wurden über 350 individuelle Einzelfälle als Trägermaterial für die Studie gesammelt und ausgewertet, anhand derer die Bedeutungen der einzelnen Quellen in ihrer Gesamtmenge als Bedeutungsnetz mithilfe der historischen Diskursanalyse untersucht wurden. Die Vielfalt der aufgearbeiteten Quellen ermöglicht eine historische Diskursanalyse in bemerkenswerter Breite und Tiefe. Quellen dürfen teilweise selbst sprechen, Lesende können an der Erfahrung der Auseinandersetzung mit den Originaltexten teilhaben.
Ausgangspunkt war die Feststellung vieler Musikerehepaare im Umfeld des bürgerlichen 19. Jahrhunderts, wobei die Autorin deutlich macht, dass der Künstler-Ehe-Diskurs nicht losgelöst vom Künstler-Diskurs, vom Ehe-Diskurs, aber auch nicht vom Genie-Diskurs, vom Sängerinnen-Diskurs und dem Geschlechtsdiskurs betrachtet werden darf, sondern vielfältige Verschränkungen vorliegen. Ein Beispiel: „[…] schwierig ist es, zwischen Paar, Ehepaar und Ehe zu differenzieren. In der Tendenz betonte die Verwendung des Begriffs „-ehe“(„-ehepaar“) stärker die Nähe zum bürgerlichen Ehediskurs, während „-paar“ stärker die Zweisamkeit ins Zentrum stellte. Ebenso wurden die Begriffe aber synonym verwendet“ (S.51).
Der Autorin gelingt es, anhand dieser zahlreichen konkreten Beispiele deutlich zu machen, worum es ihr geht. So stellt sie beispielsweise die Schriften von Wilhelm Heinrich und Bertha Riehl und deren Familienleben nebeneinander, um zu zeigen, dass sich die Vorstellungen des Diskurses nicht unbedingt exakt so auch im Leben umsetzen ließen, sondern sich gegenseitig beeinflussten. Damit führt sie konsequent dahin, dass sie eine neue Herangehens­weise an die Forschung zu Musikerpaaren einfordert. Musikkulturelles Handeln und die Karrieregestaltung von Musikerehepaaren darf nicht isoliert und kontextfrei untersucht werden, wie laut ihr bisher überwiegend geschehen.
Die Autorin hat mit ihrer Fleißarbeit ein beeindruckendes „Wimmelbild“ mit vielen zu entdeckenden Einzelaspekten erstellt. Wunderbar, wie sie in ihrem Ausblick darauf hinweist, wie viele spannende Paare aus der musikalischen Welt noch auf eine Erforschung warten! Es bleibt noch genug zu tun!
Viola Karl