Heinrich von Meißen - Frauenlob

Kreuzleich

Andreas Kuch (Orgel), Octavians, Akademische Orchestervereinigung Jena, Ltg. Sebastian Krahnert

Rubrik: CD
Verlag/Label: Genuin Classics
erschienen in: das Orchester 11/2019 , Seite 66

Heinrich von Meißen ist als zentraler Dichter und Musiker der Minne im späten Mittelalter bekannt. Er lebte von 1249 bis 1318. „Frauenlob“ wird er genannt, weil er Loblieder auf Frauen verfasste und der Legende nach von Frauen zu Grabe getragen und beweint wurde.
Als Hauptwerke sind die drei geistlichen Leiche Minne-, Kreuz- und Marienleich überliefert mit insgesamt etwa 450 Spruchstrophen. Der in der vorliegenden Aufnahme vertonte Kreuzleich ist ein abendfüllender Gesang über die Natur des Heiligen Kreuzes aus allen erdenklichen Perspektiven, oftmals in manieristische Sprachform als rasante Abfolge kühner sprachlicher Bilder und Metaphern gegossen. Das damals vorhandene theologische Wissen über das Kreuz fasst der Kreuzleich zusammen, indem nicht nur aus der Bibel, sondern auch aus Kommentaren der Kirchenväter, lateinischen Hymnen, Predigten und volkstümlichen Büchern zitiert wird.
Schon zur Entstehungszeit handelte es sich um anspruchsvolle Tex­te, die in ihrer Tiefe nur von gebildeten Lesern gänzlich aufgenommen werden konnten. Ebenso ungewöhnlich für das späte Mittelalter war die musikalische Gestaltung: Hochexpressive Melodien von großem Ton­umfang, die auch heutige Sänger herausfordern, wechseln sich mit schlichten Kantilenen oder durch Wiederholungen gekennzeichneten kontemplativen Gesängen ab. Die Kontraste werden durch Vielfältigkeit ergänzt. Tänzerisch-dynamische Sätze folgen auf melismatisch komplex verzierte Melodien.
Da über die Aufführungspraxis der damaligen Musik lediglich Bildzeugnisse und im Fall des Kreuzleich Werkfragmente in Choralnotation existieren, eröffnet sich hier ein Gestaltungsspielraum, den der Komponist Karsten Gundermann bei seiner Rekonstruktion weidlich nutzt. Es handelt sich dabei um ein Unterfangen, das stets heikel bleibt: Der Originalklang ist weitgehend Fiktion und zugleich haben Bearbeitungen mittelalterlicher Musik unser Hörbewusstsein bereits stark beeinflusst. So geht es dem Hörer auch bei dieser Aufnahme. Insbesondere die Strophen mit starker Orchesterbeteiligung wie beispielsweise „Des vater zorngejeide“ erinnern klangbildlich stark an die Ästhetik Carl Orffs.
Andere Strophen hingegen wirken insbesondere wegen der eindrucksvollen sängerischen Leistung des Jenaer Vokalensembles Octavians, Gewinner des Leipziger A-cappella-Wettbewerbs von 2017, „authentischer“. Hier gelingt die Rekonstruktion eher, obgleich die Kombination mit modernen Orchesterinstrumenten immer eine Gratwanderung bleiben wird.
Die CD-Produktion enthält ein informatives Booklet mit erläuternden Beiträgen in deutscher und englischer Sprache sowie mit einem Textbuch, das den mittelhochdeutschen Text und eine Übersetzung ins moderne Deutsch, jedoch nicht ins Englische anbietet.
Die Aufführungsleistung unter der Leitung von Sebastian Krahnert kann sich insgesamt sehen lassen. Diese Einspielung erschließt uns ein bisher eher wenig beachtetes Stück mittelalterlicher, deutschsprachiger Musiktradition.
Karim Hassan