Petra Diederichs

Krefeld: Schamanen, Todesahnung und Schicksalston

Die Niederrheinischen Sinfoniker spielen Tan Dun und Bruckner

Rubrik: Bericht
erschienen in: das Orchester 01/2023 , Seite 59

In manchen Konzerten ist ein einziger Ton der entscheidende. Mihkel Kütson, Generalmusikdirektor der Niederrheinischen Sinfoniker, hat alles auf d gesetzt – und: Jackpot. Mit einem extravaganten Programm hat er dem Publikum beim 2. Sinfoniekonzert ein Hörerlebnis beschert, das bis in die kleinsten Nervenzellen drang. Er kombinierte Fire Ritual des 1957 geborenen chinesischen Komponisten Tan Dun mit der Neunten von Anton Bruckner. Zeitgenössischer Klang-Thrill traf auf die Wucht des vom Tode gezeichneten Romantikers. Und beides verbindet d-Moll.
D ist der erste Ton der gewaltigen Sinfonie des Österreichers. Die berühmte Unvollendete hat der Komponist voll bösen Aberglaubens, weil so viele Kollegen ihre Neunte nicht überlebt haben, kurz vor seinem Tod geschrieben. Die Niederrheinischen Sinfoniker steigen mit Herz und Kraft in jeden Klangwinkel des monumentalen Werks. In XL-Formation, mit allein acht Hörnern und Wagner-Tuben ausgestattet, beschränken sie sich aber auf die drei vollständigen Sätze. Das Drängende und Dräuende, Bruckners Todesahnung wirkt fast doppelt schwer, weil die Sinfonie so passgenau die Gefühle beschwört, die das Orchester zuvor mit Tan Duns Werk angesprochen hatte.
Fire Ritual ist Musik, die man nicht nur hören kann. Man muss sie erleben – mit jeder Faser des Körpers. Tan Dun, der als Filmkomponist oscar-prämiert ist, setzt Bilder in Gang. Das Orchester sitzt im Halbkreis auf der Bühne. Ausgenommen Flöte, Oboe, Klarinette, Fagott und Piccolo­trompete: Diese bilden im Saal eine Art „U“ und umschließen die Zuhörenden wie ein Klangkokon. Dann wird das erste d hörbar – weich und zart. Die Norwegerin Eldbjørg Hemsing schreitet durch die Reihen, lässt ihre Stradivari von 1707 den Moll-Akkord singen. Das Orchester empfängt sie mit einem Tutti, kurz und scharf wie ein Schuss.
Tan Dun verweist in seiner eher spärlich dokumentierten Biografie auf Einflüsse der Peking-Oper, aber auch zeitgenössischer Kollegen wie Philip Glass, John Cage und Steve Reich. In Fire Ritual hat er sich selbst als aktiven Klangerzeuger gesehen. Er hat dem Dirigenten des Werks, mit dem er der Toten aller Kriege gedenkt, die Rolle eines Schamanen zugedacht. Kütson muss am Pult sein Orchester führen und dazu rituelle Laute, Kehliges und Silben, die nur phonetische Funktion haben, einstreuen. Auch das Orchester muss hauchen, brüllen, nur mit den Mundstücken oder auf dem Corpus der Instrumente tonmalen.
Übers Ohr entwickelt sich ein Ton-Film: Hem­sing ist die Prophetin, die zwischen Mensch­heit und Mutter Natur vermittelt. Sie spielt den Dirigenten an, der mit seinem Orchester antwortet. Die Niederrheinischen Sinfoniker sind auf den Punkt genau hoch konzentriert. Das Gerassel von Kriegsmaschinerie umfliegt die Zuhörenden. Mal klingt es nach dem Aufmarsch einer Armee, mal vernimmt man leisen Totengesang oder Musik, die ein Schlachtfeld im Nebel untermalen möchte. Ab und zu einen Hoffnungsschimmer. Tan Dun kreiert große Bilder.
Hemsing lässt ihre Violine jubilieren, flehen, wimmern, kämpfen. Sie improvisiert mit einer Virtuosität, die nie akademisch kühl wirkt, sondern bei aller Forderung warm und einnehmend. Ein versöhnliches d legt sie zum Finale auf das Summen der Sinfoniker, die über sich hinauswachsen. Der Ton d trägt in der Solmisation, nach der im Mittelalter Töne mit singbaren Silben benannt wurden, die Bezeichnung „Re“. Im Deutschen bedeutet „Re“ so viel wie zurück oder wieder. Es ist wie eine Hoffnung auf Wiederkehr.