Martinu, Bohuslav

Konzert Nr. 1 H 226 / Nr. 2 H 293

für Violine und Orchester, Klavierauszug mit Stimme

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Bärenreiter, Prag 2016
erschienen in: das Orchester 03/2017 , Seite 65

 Bohuslav Martinu (1890-1959), selbst von Haus aus Geiger, der einige Jahre der Gruppe der 2. Geigen in der Tschechischen Philharmonie angehörte, sich jedoch spätestens seit 1923 ganz der Komposition widmete, hat seine beiden Violinkonzerte für namhafte Solisten geschrieben. Das hoch virtuose, spieltechnisch herausfordernd-brillante dreisätzige Konzert Nr. 1 komponierte er zwischen Mai und Dezember 1932 für Samuel Dushkin, der bekanntlich das Violinkonzert von Strawinsky 1931 uraufgeführt hatte.
Martinu hörte 1932 Strawinskys Konzert mit Dushkin als Solisten; und so überrascht es kaum, dass er in der Gestaltung der Solostimme wohl an Strawinsky anschloss, doch die Spieltechnik beträchtlich steigern und idiomatisch weit über Strawinsky hinausführen konnte, sodass sie Dushkin offensichtlich überforderte. Dushkin hielt Martinu hin, verlangte Revisionen, die Martinu auch vornahm, führte das Konzert jedoch nie auf, gab es aber auch nicht für andere interessierte Geiger frei. Seit 1938 galt das Konzert dann als verschollen (die autografe Partitur ist bis heute nicht aufgetaucht), ohne dass Martinu diesen Verlust sonderlich beklagte. Erst 1961 gelang es, eine Partitur aufzuspüren, und am 8. November 1973 konnte Josef Suk in Chicago die Uraufführung mit dem Chicago Symphony Orchestra unter Georg Solti spielen.
Bis heute steht dieses Konzert allzu sehr im Schatten des nun freilich wirklich bedeutenden 2. Violinkonzerts, das Martinu zwischen Februar und April 1943 auf Anregung von Mischa Elman komponierte, der es auch bereits am 31. Dezember 1943 in Boston mit dem Boston Symphony Orchestra unter Sergej Koussevitzky uraufführte. Dieses 2. Konzert, das unbedingt zur Reihe großer Violinkonzerte von Bartók, Berg, Britten bis hin zu Hindemith zählt, die seit den 1930er Jahren komponiert wurden, hat sich weithin durchgesetzt und ist in jüngster Zeit endlich auch von jüngeren Violinvirtuosen ins Repertoire integriert worden. Es verbindet mit seinen originell differenzierten, eher traditionellen Formen und Satzcharakteren einen konzertant-sinfonischen Duktus mit einem durchaus spürbaren tschechischen Tonfall, die ihm im Kontext der Gattung unverwechselbare Züge geben. Es mag konventioneller als das 1. Konzert wirken, doch vermag Martinu die Ausdrucksgestaltung zu vertiefen und die schroff-spektakuläre Spieltechnik des 1. Konzerts durch Eleganz aufzuwiegen.
Bärenreiter druckt mit den hier vorgelegten Klavierauszügen diejenigen ganz vorzüglich nach, die Karel Šolc für die Erstausgaben angefertigt hatte. Hinzugefügt wurden instruktive Vorworte von Sandra Bergmannová, einer Mitarbeiterin der Martinu-Gesamtausgabe; sie hebt ausdrücklich hervor, dass Unterschiede zwischen der beigefügten separaten Solostimme und der dem Klavier überlegten Solostimme nicht emendiert wurden, weil sich die philologischen Fragen noch nicht klären lassen. Nützlich wäre ein Verzeichnis der Orchesterbesetzung gewesen.
Giselher Schubert