Felix Mendelssohn Bartholdy

Konzert in e für Violine und Orchester op. 64

Urtext, hg. von R. Larry Todd/Clive Brown, Partitur/Klavierauszug mit Urtext-Stimme Fassung 1844/Klavierauszug mit Urtext-Stimme Fassung 1845 sowie mit separatem Kommentar zur Aufführungspraxis

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Bärenreiter, Kassel 2005/2005 rev. 2018/2005 rev. 2018
erschienen in: das Orchester 09/2018 , Seite 72

Mendelssohns Violinkonzert op. 64 von 1844/45 zählt zu den Kernwerken des Repertoires; es gibt wohl keinen konzertierenden Solisten, der es nicht vorgetragen hat.
Die Aufnahmen auf Tonträgern sind kaum mehr ganz zu überschauen. Entsprechend große Interpretationsunterschiede lassen sich konstatieren, die weniger auf gravierende, offen gebliebene philologische Fragen zurückzuführen sind als vielmehr in letzter Instanz auf Fragen des interpretatorischen Geschmacks zwischen selbst­sicherem Eigensinn und historischer Bildung.
Der 1. Satz trug zum Beispiel zunächst die Tempovorschrift „Allegro con fuoco“, die Mendelssohn dann zu „Allegro molto appassionato“ abänderte. Aber wie, so wäre zu grübeln, soll das mit dem 2. Takt in relativ hoher Lage in der Sologeige eingeführte Hauptthema con fuoco oder molto appassionato vorgetragen werden, das ausdrücklich mit der dynamischen Vorschrift p versehen ist: mit gleichsam lauerndem Furor in rasantem Tempo, wie Jascha Heifetz es spielte, oder mit der innerlich bewegten Melancholie, die Viktoria Mullova so unvergleichlich bot?
Mit den vorliegenden Editionen lassen sich solche Fragen historisch verständnisvoll wenn nicht entscheiden, so doch abwägen und diskutieren. Publiziert werden die Partituren des Konzerts sowohl in der frühen Version von 1844 als auch in der von Mendelssohn bemerkenswert revidierten und einzig gültigen Version von 1845. Hinzu kommen die Klavierauszüge dieser beiden Versionen mit separaten Solostimmen, eine von Clive Brown historisch kompetent eingerichtete separate Solostimme sowie aufführungspraktische Hinweise. Diese unterrichten nicht nur allgemein über die Aufführungspraxis zur Zeit Mendelssohns in Leipzig, sondern verzeichnen auch taktweise durchaus widersprüchliche Kommentare von den Geigern und ihren Schülern, die das Konzert mit Mendelssohn einstudiert oder gespielt haben, so Ferdinand David, Joseph Joachim und Hubert Léonard.
Beigegeben sind außerordentlich aufschlussreiche Faksimiles: etwa aus der von Mendelssohn gründlich durchgearbeiteten Kopistenabschrift der Partitur oder ein Faksimile der Solostimme mit dem Fingersatz von Léonard. Herausgeber R. Larry Todd unterrichtet über die Entstehung und Überlieferung des Werks, und zudem sind auch noch die Lesarten der wichtigsten Quellen (autografe Partitur, Kopistenabschrift der Partitur, Erstausgaben des Klavierauszugs und der Stimmen, Erstausgabe des englischen Klavierauszugs) jeweils separat verzeichnet.
Diese Publikationen bieten demnach mit der schier berstenden Fülle an Informationen eine denkbar umfassende Grundlage für eine „historisch informierte Aufführungspraxis“ des Werks. Aber sie nimmt natürlich keinesfalls den Musikern die interpretatorischen Entscheidungen ab – sie fordert sie ganz im Gegenteil geradezu heraus.
Giselher Schubert