Vivaldi, Antonio
Konzert g-Moll op. 12 Nr. 1 RV 317
für Violine und Streichorchester, hg. von Daniel Ivo de Oliveira, Partitur
Im Werbetext der Edition Walhall wird angekündigt, dass der Herausgeber in den nächsten Jahren eine Auswahl mit den wichtigsten Werken Vivaldis als kritische Neuausgabe vorlegen und somit die überlieferte Urgestalt möglichst sichtbar machen wird. Dieses Unternehmen ist sehr zu begrüßen, da in der Tat soweit ich das recherchieren konnte bisher der Praxis kein quellenkritisches Aufführungsmaterial zur Verfügung stand, wie der Verlag mitteilt. Der Herausgeber, Daniel Ivo de Oliveira, ist Cembalist und Spezialist für Alte Musik, und insoweit bestens vorbereitet für diese Aufgabe.
Gegenüber alten Ausgaben, in welche die Herausgeber mit von ihnen hinzugesetzten Artikulationszeichen und Strichbezeichnungen ihre eigene Auffassung hineininterpretierten, ist das Notenbild hier puristisch einfach und klar, entschlackt von allem Ballast früherer Aufführungstraditionen. So wird dem Spieler keine Interpretation aufsuggeriert; er kann sich vielmehr ganz darauf konzentrieren, welche musikalischen Zusammenhänge und daraus resultierenden Artikulationen sich aus dem Notenbild ergeben. Das Fehlen von Artikulationsvorschlägen durch den Herausgeber macht den Interpreten mündig und lässt ihm Raum für eigene Entscheidungen. Wenn aber Artikulationszeichen, zum Beispiel Bindebögen, im Notentext auftauchen, kann sich der Spieler darauf verlassen, dass sie von Vivaldi bzw. von dem als Quelle benutzten Erstdruck des niederländischen Verlagshauses Estienne Roger & Michel-Charles Le Cène aus dem Jahr 1729 selbst stammen. Diese Bindebögen sind dann meistens aber mehr als nur Artikulationszeichen, fassen vielmehr auch musikalische Sinneinheiten zusammen und sind somit wertvoll, um ein sprechendes Spiel zu erreichen.
Wie es sich für eine handwerklich gut gemachte Urtextausgabe gehört, gibt der Herausgeber über alle Änderungen im Notentext gegenüber dem Urtext Rechenschaft. Das Notenbild ist übersichtlich, klar und bestens eingeteilt. Auch optisch bietet es so die Klarheit, die Vivaldis Musik auszeichnet.
In den vergangenen dreißig Jahren hat sich der Interpretationsstil von Vivaldis Musik gravierend geändert. Das betrifft nicht nur die schnelleren Tempi vor allem in den Ecksätzen, die Betonung von rhythmischen Impulsen und die größere Helligkeit des Klangbildes, sondern insbesondere auch eine Artikulation, die nicht von den großen (romantischen) Bögen ausgeht, sondern die Melodie aus kleinen Sinneinheiten zusammensetzt.
Es wird höchste Zeit, dass alle Interpreten ein adäquates Notenmaterial in die Hand bekommen, das eine wichtige Voraussetzung für diese neue Herangehensweise ist; denn längst musizieren nicht nur Alte-Musik-Ensembles, sondern auch Musiker auf modernen Instrumenten Vivaldis Musik auf diese Weise. Die Edition Walhall nimmt also in Angriff, was längst überfällig war.
Franzpeter Messmer