Joachim Raff

Konzert für Violoncello und Orchester Nr. 1 d-Moll op. 193

Partitur, hg. von Andreas Wiesli und Jonas Kreienbühl

Rubrik: Rezension
Verlag/Label: Breitkopf & Härtel, Wiesbaden
erschienen in: das Orchester 04/2024 , Seite 68

Friedrich Grützmacher, königlich Dresdner Kammervirtuose und einer der großen Cellisten seiner Zeit, schreckte nicht vor drastischen Worten zurück, um dem befreundeten Komponisten Joachim Raff im April 1873 seine Notsituation zu verdeutlichen: „Der langgehegte Wunsch besteht in nichts Geringerem, als Sie nach besten Kräften zu ersuchen, uns arme Violoncellisten doch durch ein Concert für unser Instrument aus unserer wahrhaft unerträglich werdenden und zum höchsten Mißmuth treibenden Lage zu befreien.“ Raff hatte zu dieser Zeit gerade eine Cellosonate vollendet und nahm im Folgejahr die Arbeit an seinem ersten Cellokonzert auf. Bald lag eine erste Fassung vor, fortan entwickelte sich eine lebhafte Kommunikation zwischen Komponist und Interpret. Grützmachers Vorschläge zur Ausgestaltung des Soloparts, aber auch zu vielen kompositorischen Details nahm Raff offenbar gern an. Sogar solistische „Ruhephasen“ wusste Raff einzurichten: „Im Original ist die Kadenz unmittelbar an das vorausgehende Solo angeschlossen. Zu Folge dessen hat Grützmacher erstens nicht genug Zeit zum Ausruhen vor der Kadenz und zweitens kann nicht applaudirt werden.“ Am 4. November 1874 wurde das Werk in Dresden erfolgreich uraufgeführt – es scheint noch üblich gewesen zu sein, eine bravouröse Solopassage mit Zwischenapplaus zu goutieren, während das Orchester weiterspielte.
Die in Zusammenarbeit mit dem im schweizerischen Lachen (Raffs Geburtsort) beheimateten Raff-Archiv erstellte Urtext-Ausgabe macht ein Werk wieder zugänglich, das noch bis ins frühe 20. Jahrhundert zum Standard-
repertoire der Cellisten zählte und sich allgemeiner Beliebtheit erfreute. Das Autograf ist nicht überliefert, auch die Korrekturabzüge, auf die sich Raff und Grützmacher in ihrem lebhaften Briefwechsel beziehen, sind leider nicht erhalten. Die vorliegende Edition fußt auf den Erstausgaben des Leipziger Verlags C. F. W. Siegel.
Warum geriet das attraktive Konzert in Vergessenheit? Die Verengung des „großen“ Solorepertoires auf wenige Werke ist ein allgemein zu beklagendes Phänomen. Heutigen Spitzenkräften mag ein Raff-Konzert verglichen mit Dvořák vielleicht nicht spektakulär genug erscheinen. Ihnen (und uns) entgeht dabei die Begegnung mit einem Werk voll frischer, beseelter Melodik und überdies dankbarer Cellistik, eingebettet in einen transparenten, dem Soloinstrument stets „Luft“ gebenden Orchestersatz. Den lobenden Worten des Uraufführungs-Rezensenten insbesondere über „die einfach zum Herzen gehende Romanze und den übermüthig-gelaunten Schlusssatz“ können wir uns anschließen, ebenso seinem kleinen Seitenhieb, das Werk sei nicht belastet durch die „Raff sonst öfter anhaltende gesuchte Geistreichheit“. Dank an Editoren und Verlag für diese wertvolle Publikation!
Gerhard Anders