Johannes Brahms

Konzert für Violine und Orchester D-Dur op. 77

Urtext, hg. von Linda Correll Roesner und Michael Struck, Partitur

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Breitkopf & Härtel, Wiesbaden
erschienen in: das Orchester 04/2023 , Seite 65

Das „Concert für Violine mit Begleitung des Orchesters op. 77“ von Johannes Brahms gehört zu den bedeutendsten Violinkonzerten des 19. Jahrhunderts und zum Grundstock des Solistenrepertoires. Nicht nur die Zueignung der Partitur, sondern die gesamte Entstehungs- und Veröffentlichungsgeschichte des Werks verweisen auf die enge Zusammenarbeit zwischen dem Komponisten und dem Geiger Joseph Joachim, der das Konzert 1879 in Leipzig uraufführte und sich auch in der Folgezeit immer wieder damit befasste.
Die vorliegende, in Layout und Notenbild bestechend klare Dirigierpartitur ist deckungsgleich mit dem von Linda Correll Roesner und Michael Struck sorgfältig edierten Urtext der neuen Brahms-Gesamtausgabe. Als Hauptquelle diente das Handexemplar des Partitur-Erstdrucks aus dem Brahms’schen Nachlass, als Referenzquellen herangezogen wurden unter anderem die als Stichvorlagen dienende autografe Partitur und abschriftliche Solostimme (heute aufbewahrt in der Library of Congress, Washington, DC), ferner aber auch eine frühe autografe Solostimme und die teilautografe Stichvorlage des Klavierauszugs.
Die umfangreichen (und im Übrigen sehr lesenswerten) Erläuterungen, die sich im Editionsbericht der Gesamtausgabe finden, wurden in der vorliegenden Praxisausgabe zu einem informativen Anhang von nur wenigen Seiten Umfang gebündelt. Neben einer Kurzbeschreibung aller zur Erstellung des Notentextes verwendeten Quellen gibt es hier die in der Partitur selbst durch Fußnoten ausgewiesenen Anmerkungen zu zahlreichen Passagen. Diese Anmerkungen geben erstens Einblicke in einige besonders gravierende Textprobleme. Zweitens machen sie aber auch auf zusätzliche, nicht in den Hauptquellen enthaltene, sondern in handschriftlicher und gedruckter Solostimme sowie im Klavierauszug überlieferte Vortragsanweisungen aufmerksam. Drittens schließlich dokumentieren sie aufführungspraktisch relevante Fingersätze, Strichbezeichnungen und Phrasierungen, die – von Brahms autorisiert – auf Joachims intensive Auseinandersetzung mit dem komplexen Violinpart zurückgehen.
Gleichfalls mit in die Edition aufgenommen und im Anschluss an die Partitur abgedruckt ist die von Joachim für den Kopfsatz des Werkes komponierte Solokadenz in ihrer endgültigen, erst 1902 publizierten Gestalt. Besonders erfreulich ist darüber hinaus der zusätzliche Abdruck einer gestrafften Kadenz (März 1885), die offenbar auf eine frühere Version von Joachims Kadenz zurückgeht: Sie basiert auf einer Abschrift, die von der Geigerin Marie Soldat gefertigt und an einzelnen Stellen durch Brahms und die Geigerin selbst modifiziert wurde. Das Ergebnis hat Brahms – wie die Informationen im kurzen Vorwort nahelegen – aufgrund der knapperen Formulierungen gegenüber der langen Kadenz Joachims favorisiert.

Stefan Drees