Braunfels, Walter

Konzert für Orgel, Knabenchor und Orchester und andere Welt-Ersteinspielungen

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Oehms Classics OC 411
erschienen in: das Orchester 05/2013 , Seite 77

Ein gutes halbes Jahrhundert nach dem denkwürdigen Neubeginn, der sich mit den Ortsangaben „Darmstadt“ und „Donaueschingen“ verbindet, erweiterte sich die Perspektive der Neuen Musik auf Komponisten, die bereits seit Beginn des 20. Jahrhunderts nach neuen Wegen suchten, sich jedoch erst von den Nazis, dann, auch wenn hier keinerlei Kausalkette konstruiert werden soll, von den seriellen Dogmatikern und Apologeten der Schönberg-Schule nach dem Krieg ausgebootet fanden. Franz Schreker gehört hierher, Paul Hindemith, Wolfgang Fortner vielleicht, und auch Walter Braunfels, 1882 in Frankfurt geboren, ausgebildet am Konservatorium seiner Heimatstadt, dann in Wien und München als Pianist und Komponist, ab 1925 Begründer und Rektor der Kölner Musikhochschule. Das Amt versah der 1954 Verstorbene nach dem Krieg für wenige Jahre noch einmal.
Von Köln ging auch die Braunfels-Renaissance aus, als deren Initialzündung die Wiederaufführung seiner Oper Die Vögel im Jahr 1998 gelten kann. Dass nun die Münchner Symphoniker unter Leitung des Münchner-Bachchor-Dirigenten und Organisten Hansjörg Albrecht diese Bewegung auch in die süddeutsche Metropole bringen, ist löblich (und, der Biografie des Komponisten folgend, auch notwendig), zumal alle drei Werke zum ersten Mal auf CD gebannt werden. Das originelle Konzert für Orgel, Knabenchor (die Tölzer Knaben intonieren im umfänglichen Mittelsatz einen im Booklet leider textlos gebliebenen Choral, im Finale die zweite Strophe von Philipp Nicolais Lied Wachet auf, ruft uns die Stimme) und (holzbläserfreies) Orchester op. 38 ist dem damaligen Thomas-Organisten Günther Ramin gewidmet, wurde 1928 im Leipziger Gewandhaus unter Wilhelm Furtwängler uraufgeführt und überrascht, neben kontrapunktischem Eifer, mit aparten harmonischen Rückungen und bisweilen mystisch verklärtem Glanz. Iveta Apkalna spielt die hären klingende, dieser Musik aber angemessene Steinmeyer-Orgel im Herkules-Saal der Münchner Residenz.
Für Toccata, Adagio und Fuge f-Moll op. 43 setzt sich Albrecht selbst an die klangmächtige Orgelanlage in der Kieler St. Nikolai-Kirche. Jedoch wird hier nur die große Kleuker-Hauptorgel gespielt, oder wird – falls sich beide Instrumente überhaupt verbinden lassen – die Cavaillé-Coll-Mutin-Chororgel dazugekoppelt? Auch für den Abdruck einer Disposition wäre im Booklet durchaus noch Platz gewesen. Sein einziges Werk für Orgel solo schrieb der jüdisch verwurzelte Braunfels in dunkler Zeit zwischen 1933 und 1942 und es wurde erst 1946 uraufgeführt. Der Werktitel (und das Fugenthema) erinnern an Bach, die Musik jedoch, in der rauschenden Toccata wie in der doppelthematische Crescendo-Fuge, an die komplexen Harmonietürme Max Regers, das Adagio an entsprechende Tendenzen der Orgel-Sinfonik etwa eines jungen Louis Vierne.
Die hübschen Symphonischen Variationen über ein altfranzösisches Kinderlied op. 15 vervollständigen die CD, 1909 komponiert im Stil der spätromantischen Balance zwischen üppig instrumentierter Wucht und heiterer, sanglicher Eleganz, die zu erreichen sich die Interpretation Albrechts mit Erfolg bemüht. Alle drei Stücke sind ein unbedingter Gewinn fürs Repertoire und sollten auch in die Konzertpraxis Einzug halten.
Andreas Bomba