Ustwolskaja, Galina

Konzert für Klavier, Streichorchester und Pauken

Partitur

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Sikorski, Hamburg 2004
erschienen in: das Orchester 10/2004 , Seite 82

Die Musik der in St. Petersburg geborenen Galina Ustwolskaja fand erst vergleichsweise spät im westlichen Europa durch Aufführungen bei Festivals und CD-Einspielungen breitere Resonanz. Der archaische, magisch-rituelle Charakter ihrer Musik brachte der Komponistin bald den Ruf einer religiösen Ekstatikerin ein. Auch Werke, die rein instrumental konzipiert sind, tragen bei ihr oft geistliche Titel: So sind etwa die Compositions I-III mit „Dona nobis pacem“, „Dies irae“ und „Benedictus qui venit“ überschrieben. „Meine Werke sind zwar nicht religiös im literarischen Sinn, aber von religiösem Geist erfüllt, und – wie ich es empfinde – sie würden am besten in einem Kirchenraum erklingen…“: So hat sich die Komponistin in dieser Hinsicht einmal geäußert.
Noch wenig von dem, was das verbreitete Bild von Ustwolskajas Schaffen und seinen geistlichen Hintergrund betrifft, findet man in dem hier erstmals im Partiturdruck veröffentlichten Konzert für Klavier, Streichorchester und Pauken, das in die Anfänge von Ustwolskajas Œuvre zurückverweist und seinerzeit, im Jahr 1946, als erste gültige Komposition ins Werkverzeichnis der damals 27-Jährigen aufgenommen wurde.
Die einsätzige Komposition, die Klavier und fünfstimmigen Streicherapparat weniger konfrontiert als miteinander vernetzt, zeigt im Vergleich zu späteren Arbeiten Ustwolskajas ein sehr klares und übersichtliches Partiturbild. Die Musik ist noch durch Taktstriche gegliedert, wobei die Metren bis auf kleinere Abweichungen nur abschnittsweise zwischen 4/4, 6/8 und 3/4 wechseln, und der Ton C bildet das tonale Zentrum: Das alte Bezugssystem von Dur und Moll bleibt jedoch im Hintergrund erkennbar.
Der dreitaktige, in die Tiefe führende fortissimo-Soloeingang des Klaviers mit seinem markant zugeschärften, lombardischen Rhythmus scheint zunächst auf das große romantische Solokonzert zu verweisen, und doch ist, was folgt, trotz manchen technischen Anspruchs im Klavierpart kein Virtuosenstück, sondern eine thematisch äußerst konzentrierte sinfonische Musik. Bezeichnenderweise dient der als „Cadenza“ bezeichnete Soloabschnitt in der Werkmitte gerade nicht der Zurschaustellung der Pianistik, sondern ist als zartes dolce espressivo angelegt.
Das markante rhythmische Eingangsmotiv wird im Verlauf der Komposition mehrfach wieder aufgegriffen und beherrscht auch den zum vierfachen forte gesteigerten, geradezu brachialen Schluss des Werks. Dazwischen wechseln aggressive und lyrische Episoden, getragen von der ständigen Verwandlung und polyfonen Kombination zweier grundlegender Themen, bis am Endpunkt der Entwicklung auch noch lombardischer Anfangsrhythmus und thematische Substanz ineinander integriert werden. Insofern weist dieses Frühwerk doch schon auf die späteren Arbeiten Galina Ustwolskajas voraus: auf die strukturelle Dichte, die Ustwolskajas Schüler Boris Tischtschenko einmal zum Vergleich ihrer Musik mit einem konzentrierten Laserstrahl herausforderte, der in der Lage sei, Metall zu durchdringen.
 
Gerhard Dietel