Ravel, Maurice

Konzert für die linke Hand

Urtext, hg. von Douglas Woodfull-Harris mit einer Einführung von Christine Baur, Partitur / Klavierauszug des Komponisten

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Bärenreiter, Kassel 2016
erschienen in: das Orchester 03/2017 , Seite 66

Die Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte des Konzerts für die linke Hand für Klavier und Orchester von Maurice Ravel, am 5. Januar 1932 im Großen Musikvereinssaal in Wien vom Pianisten Paul Wittgenstein gemeinsam mit den Wiener Symphonikern unter Leitung von Robert Heger uraufgeführt, ist sehr spannend. Wittgenstein, der im Ersten Weltkrieg den rechten Arm verloren hatte, beauftragte einige Komponisten – neben Ravel u.a. Strauss, Korngold, Hindemith, Prokofjew und Britten –, ein Solokonzert für die linke Hand und Orchester zu schreiben. Dies spornte Ravel, der gerade an seinem G-Dur-Konzert arbeitete, zu einer unsterblichen und heute aus dem Konzertsaal nicht mehr wegzudenkenden Komposition an.
Vorbild waren ihm u.a. dabei Saint-Saëns’ Six Etudes und Prélude und Nocturne von Skrjabin. Die bei­­den fulminanten Kadenzen im Konzert überbieten alles bis dahin für die linke Hand Komponierte. Wittgenstein hingegen nahm eigenmächtige Veränderungen – besonders an der zweiten Kadenz und auch an der Instrumentation – vor, was Ravel verständlicherweise überhaupt nicht passte. Einige dieser Veränderungen werden bis heute gespielt.
Der Herausgeber der neuen Urtextedition Douglas Woodfull-Harris konnte Quellen aus dem Nachlass der Familie Wittgenstein und weitere neue Quellen studieren. Seine gründlichen Recherchen sind in diese Neuausgabe von Bärenreiter mit eingeflossen, u.a. wurden fehlerhafte Noten korrigiert. Drei Ablichtungen im Anhang, welche Eintragungen Wittgensteins zeigen, weisen auf die Dimension der Veränderungen hin und machen deutlich, wie viele gravierende Abänderungen auf dem Weg von Ravels autografem Arbeitsexemplar bis hin zum Erstdruck stattgefunden haben können.
Christine Baur geht in einem ausführlichen und sehr informativen Vorwort (Deutsch, Englisch, Französisch) auf die spannungsgeladene Entstehungsgeschichte und das durchaus problematische Verhältnis zwischen dem Komponisten Ravel und dem Auftraggeber und Interpreten Wittgenstein ein. Ein siebenseitiger kritischer Kommentar, leider nur in Englisch, enthält wichtige Detailinformationen.
Die Partitur ist übersichtlich und gut lesbar gesetzt. Dem von Ravel selbst angefertigten Klavierauszug liegt zusätzlich eine Solostimme bei. In diesem sind sowohl Ravels als auch Wittgensteins Fingersätze enthalten. Dies ermöglicht einen erkenntnisreichen Vergleich beim Einstudieren des Werks, denn die Handdispositionen bei beiden waren sehr unterschiedlich. Vor allem beim Piú lento bei Ziffer 9 und in den beiden Kadenzen sind dadurch aufschlussreiche Varianten und Alternativen gegeben, welche technisch und musikalisch, vor allem was das melodische Spiel und die Aufteilung der Arpeggien betrifft, von großer Bedeutung sind.
Klavierstudenten und Konzertpianisten, die das Werk erarbeiten und aufführen wollen, werden an dieser vorbildlichen wissenschaftlich-kritischen Neuausgabe einen großen Gewinn haben.
Christoph J. Keller