Beethoven, Ludwig van

Konzert

für Violine und Orchester D-Dur op. 61, Partitur/Ausgabe für Violine und Klavier, Urtext

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Breitkopf & Härtel, Wiesbaden 2011
erschienen in: das Orchester 10/2012 , Seite 65

Zu den bekannten Urtextausgaben des Violinkonzerts von Beethoven gesellt Breitkopf eine weitere, herausgegeben vom britischen Musikwissenschaftler Clive Brown. Erhältlich sind Partitur und Klavierauszug, wobei die Partitur uneingeschränkt empfohlen werden kann. Im Vorwort widmet Brown sich ausführlich der Entstehungs- und Veröffentlichungsgeschichte des Werks, den verschiedenen Quellen und editorischen Problemen, der Rolle Franz Clements, des Widmungsadressaten und Interpreten der Uraufführung. Er befasst sich mit aufführungspraktischen Aspekten, Tempi, Artiku­la­tion, Akzenten und Dynamik. Besonders zu loben ist der 15-seitige Kritische Kommentar (nur englisch). Einziger Kritikpunkt ist das Fehlen der im Autograf notierten, von Beethoven später verworfenen Varianten der Solostimme, die faszinierende Einblicke in Beethovens Arbeitsweise gewähren und seinen untrüglichen ästhetischen Instinkt dokumentieren. Wer sich dafür interessiert, der greife zur Henle-Taschenpartitur oder zu Max Rostals Ausgabe bei Schott, wo die verschiedenen Fassungen im Klavierauszug abgedruckt sind.
Zwiespältig dagegen der Eindruck des Klavierauszugs. Genauer gesagt gibt es am Klavierauszug selbst sowie an der einen der beiden beigegebenen Violinstimmen – der uneditierten – außer wiederum der Auslassung der Solovarianten nichts auszusetzen. Das Problem ist die von Brown “mit historisch-informierten Fingersätzen und Bogenstrichen” versehene Einrichtung, die trotz einer wortreichen Vorwort-Rechtfertigung nicht überzeugen kann. Unerquicklich bereits der rechthaberische, schulmeisternde Grundton: “In Unkenntnis der zu Beethovens Zeit üblichen Konventionen führen sie [heutige Interpreten] … Rhythmen mit einer Präzision und Strenge aus, die vom Komponisten als äußerst grob und ausdruckslos angesehen worden wären; auf der anderen Seite benutzen sie ein anachronistisches Dauervibrato … und halten dies womöglich noch für einen entscheidenden Aspekt zeitgenössischer Tongebung.” Anne-Sophie Mutter, Julia Fischer, Frank Peter Zimmermann: Setzen! 6!
Zweifelhaft erscheint obendrein die Methode, eine Beethoven gemäße Stilistik samt “authentischer” Fingersätze und Striche aus historischen Quellen und Ausgaben des Violinkonzerts herleiten zu wollen, deren früheste 20 Jahre nach der Entstehung des Konzerts datiert und dabei konsequent die in der Zwischenzeit erfolgte Weiterentwicklung der Geigentechnik, ja, ihre Revolutionierung durch Paganini auszublenden. Davids, Donts, Vieuxtemps’, Joachims geigerische Einrichtungen spiegeln weit eher Musikverständnis und Stilistik der Epoche der romantischen Virtuosen wider, als dass sie als verlässliche Indikatoren Beethoven’schen Stilempfindens dienen könnten. Natürlich sind diese alten Ausgaben Meilensteine, natürlich sollte man sie kennen, aber bitte als Original und im historischen Kontext. Wohl selbst ahnend, dass “Schmierfingersätze” (etwa gebrochene Terzen mit demselben Finger) und exzessiver Flageolettgebrauch heute nirgendwo mehr vermittelbar sind, hat Brown immer wieder auch “moderne” Alternativen notiert, die in sich allerdings weder sonderlich originell noch für mich immer schlüssig sind. So bleibt als Fazit leider nur: weder Fisch noch Fleisch und daher eine verpasste Chance.
Herwig Zack