Konzert

Rubrik: Noten
erschienen in:

Komponistinnen hatten es in vielerlei Hinsicht noch schwerer als ihre Kolleginnen von der schreibenden oder malenden Zunft. Noch länger, bis weit hinein in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts, sprach „mann“ Frauen schlichtweg die Fähigkeit zu kreativer Tätigkeit in diesem Bereich ab: „Frauen können nicht komponieren!“ Ich erinnere mich, solches vor noch gar nicht langer Zeit aus dem Munde eines führenden Literaturkritikers im deutschen Fernsehen vernommen zu haben. Nun denn, die Zeiten ändern sich. Heute gehören Komponistinnen wie Sofia Gubaidulina oder Adriana Hölszky zu den anerkannten Stars der Szene, und Frauen sind erfolgreich dabei, sich sogar im letzten Refugium männlicher Exklusivität, im dirigentischen Fach, zu etablieren.
Von so viel Anerkennung konnte die Oppenheimerin Johanna Senfter (1879-1961) zu ihrer Zeit nur träumen. Heute ist sie fast vergessen, dabei hinterließ sie ein umfangreiches Werk, schrieb 134 Musikstücke, darunter neun Sinfonien, zahlreiche Orchesterwerke, Solokonzerte, Kammermusik, Orgelwerke, Chöre und Lieder. Ihre Ausbildung erhielt sie am Dr. Hoch’s Konservatorium in Frankfurt und studierte später bei Max Reger in Leipzig.
Auf Initiative des Frankfurter Geigers und Pädagogen Alois Kottmann ist jetzt ihr Konzert für 2 Violinen und Streichorchester in c-Moll op. 40 – Partitur, Klavierauszug und Orchesterstimmen – erstmals im Notendruck erschienen. Das viersätzige, schätzungsweise 20-minütige Werk, komponiert um 1930 und später noch für 2 Violinen und kleines Orchester – Streicher und zehn Bläser – bearbeitet, steht ganz im Banne Regers. Wie dieser selbst knüpft Johanna Senfter formal bei den Großmeistern der Barockzeit, also bei Vivaldi, Händel und vor allem bei Bach an, die harmonische Ausarbeitung ist mit ihren zahlreichen Durchgängen, der Häufung von Chromatik und den vielen Modulationen gar komplett „regerisch“ geraten. Bei der Thematik im zweiten und im letzten Satz hat unüberhörbar Bachs Doppelkonzert für 2 Violinen Pate gestanden, der dritte Satz („Lustig“), eine Art Ländler, ist wiederum „ganz Reger“. Was Senfters Konzert etwas abgeht, ist die perfekte Balance zwischen den beiden Soloinstrumenten, die Bachs Wunderwerk so auszeichnet. Die 1. Solovioline liegt fast durchgehend ein Register höher und brillanter als der zweite Part.
Ansonsten handelt es sich um ein gut komponiertes, lebendiges, ansprechendes, wenn auch im stilistischen Umfeld der Entstehungszeit ein wenig anachronistisch und eklektizistisch anmutendes Stück Musik. Beide Soloparts sind gut spielbar, von eher bescheidenem virtuosen Anspruch, die Begleitstimmen sowieso. Was diese Veröffentlichung besonders interessant und wertvoll macht, ist die Tatsache, dass für diese Besetzung nach der Barockzeit und vor Alfred Schnittke, also gut 200 Jahre lang, kaum Nennenswertes geschrieben worden ist. Ich denke, dass Johanna Senfters Konzert Freunden des Kammerorchesters, doch nicht nur ihnen, eine willkommene Bereicherung des in diesem Bereich äußerst dünnen Repertoires sein wird. Das Notenmaterial der vorliegenden Edition ist in jeder Hinsicht tadellos.
Herwig Zack