Pēteris Vasks

Konzert

für Oboe und Orchester, Klavierauszug von Klaus-Dieter Ludwig

Rubrik: Rezension
Verlag/Label: Schott
erschienen in: das Orchester 6/2022 , Seite 69

Nach Ende des Ersten Weltkriegs im Jahr 1918 wurde Lettland wie die übrigen baltischen Staaten unabhängig. Anlässlich des hundertsten Jahrestags dieses Ereignisses schuf der Komponist Pēteris Vasks ein Konzert für Oboe und Orchester. Bei der Uraufführung am 5. Oktober 2018 in der Rigaer Gildenhalle musizierte Albrecht Mayer den Solopart, begleitet vom Latvian National Symphony Orchestra unter der Leitung von Andris Poga. Für Albrecht Mayer erfüllte sich mit dieser Uraufführung zugleich der lange gehegte Wunsch nach einer Komposition für sein Instrument aus der Feder von Vasks.
„Ich habe versucht, das Werk mit meiner Idee und meinem Gefühl der unerschöpflichen Natur und dem festen Glauben meines Volks zu verbinden.“ So äußerte sich der Komponist über sein
Oboenkonzert, dessen drei Sätze bei der Aufführung einen Zeitrahmen von gut einer halben Stunde füllen. Im Gegensatz zur traditionellen Konzertform umrahmen bei Vasks allerdings zwei ruhige Rahmenteile einen bewegteren Mittelsatz, was aus der programmatischen Anlage der Komposition resultiert.
Eine „Morgenpastorale“ eröffnet das Werk, eine „Abendpastorale“ beschließt es. Im Gegensatz zu den hier entfalteten Naturbildern kann der tänzerisch inspirierte „Scherzando“-Mittelsatz als Bild fröhlichen Volkslebens verstanden werden. So bildet das Konzert eine Art Tageszeiten-Zyklus, kann aber nach Vasks’ Aussage auch anders gedeutet werden: „Das Konzert könnte für ein Menschenleben stehen, mit seinem Beginn, der Zeit der Reife und seinem Fortgang.“
Die Aufführung erfordert ein Orchester mit klassischer Streicherbesetzung, doppelt besetztem Holz (wobei der zweite Oboist auch zum Englischhorn wechselt, der zweite Klarinettist auch zur Bassklarinette), zwei Hörnern, zwei Trompeten sowie ein umfangreiches, allerdings vorwiegend dezent färbend eingesetztes Schlagwerk. Der vorliegende Klavierauszug lässt stichwortartig den Einsatz der einzelnen Instrumente und Instrumentengruppen erkennen und kann zusammen mit der beigefügten, in Bezug auf Wendestellen optimal eingerichteten Oboen-Solostimme dem praktischen Musizieren dienen.
In den pastoralen Rahmensätzen sind die Holzbläser dominant: Zu Beginn der Partitur entfalten sie über sanftem Tremolo-Hintergrund der Streicher ein wahres Konzert von Vogelstimmen, in deren Naturlaute schließlich die Solo-Oboe mit einstimmt. Lyrisch und bukolisch verläuft der Solopart auf weiten Strecken, in einer gezielt naiven Diatonik von modalem Typ. Dieser Rahmen wird nur einmal aufgesprengt: wenn Vasks inmitten des zentralen Scherzando eine technisch anspruchsvolle Solokadenz einbaut, die exaltierte Sprünge und chromatische Wendungen enthält.
Auch im Orchesterpart herrscht eine lyrische Grundatmosphäre vor, aus der sich nur wenige Tutti-Höhepunkte herausheben: Das „Passionato“ zu Beginn der „Abendpastorale“ mag man als ein Symbol lettischen Nationalstolzes verstehen.
Gerhard Dietel