Sandberger, Wolfgang (Hg.)

Kontrapunkte. Symposium “Grenzenlos? Tschaikowsky in Deutschland”

Ausstellung "Peter Tschaikowsky und Johannes Brahms", Veröffentlichungen des Brahms-Instituts an der Musikhochschule Lübeck, Bd. 8

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Edition Text + Kritik, München 2016
erschienen in: das Orchester 02/2017 , Seite 57

Gerade hatte sich der Kritiker der Leipziger Zeitung noch in der „Kosakenschenke“ gewähnt, da lässt das Divertimento den Hörer „mit einem ziemlich gewalttätigen Sprun­ge auf deutsche(r) Erde“ landen. „Der Ländler, den die Violoncelli im Verein mit den Geigen singen, ist echt deutsch!“, stellt der Musikjournalist erstaunt fest. Der Marche miniature jedoch tanzt dann „nahe an der Grenze des Trivialen vorbei: noch ein Satz, und das Werk wäre rettungslos verloren“. Vor rund 130 Jahren löste die erste Orchestersuite von Tschaikowsky eher gemischte Gefühle bei Kritik und Publikum in Deutschland aus. „Geringschätzung der beiden leichten Schlusssätze“, aber Hochachtung für den „als deutsch empfundenen Kontrapunkt“.
Kontrapunkte, Gegenstimmen, heißt dementsprechend auch das Buch zum Symposium „Grenzenlos? Tschaikowsky in Deutschland“, das zusammen mit einer begleitenden Ausstellung unter dem Motto „Tschaikowsky und Brahms“ vom Schleswig-Holstein Musik Festival und dem Brahms-Institut an der Musikhochschule Lübeck veranstaltet worden war. Dabei schien es doch fast so, als hätte der russische Komponist, der im Hamburger Convent­garten seine 5. Sinfonie sogar selbst zur deutschen Erstaufführung brachte, so etwas wie einen Ankerpunkt in der Hansestadt gefunden. Sechs Besuche stattete er ihr ab. Damit war er jedoch für die deutsche Musikszene noch lange nicht „einer der unseren“. Für Thomas Kohlhase macht sich das insbesondere am Verhältnis von Peter Tschaikowsky zu Johannes Brahms fest. Es seien „Antipoden“. „Hochachtung und Bewunderung“ bringt Tschaikowsky dem Menschen Brahms entgegen und fügt hinzu: „Leider ist seine schöpferische Begabung arm und entspricht nicht der Weite seiner Bestrebungen.“ Damit sind die Fronten geklärt.
Fronten, die auch Wolfgang Sandberger in seiner Einführung klar benennt. Dem „kosmopolitischen Komponisten“ trat ein deutsches Publikum entgegen, das „ausgesprochen konservativ“ war und alles Neue ablehnte wie auch den „europäischen Salonrussen“, den Do­rothea Redepenning in ihrem gerade erschienenen Tschaikowsky-Büchlein noch als russischen „Staatskomponisten“ geadelt hatte. In Frankreich wiederum wurde er für seine „zu deutsche“ Charakteristik kritisiert, wie Inga Mai Groote bei ihrem „Blick über die Grenzen“ feststellt.
Tschaikowsky und Deutschland ist dabei kein Widerspruch. Nur hat der Russe die Ankerpunkte woanders gefunden: bei Robert Schumann. Diese Verbindung ist tatsächlich grenzenlos. Denn sie speist sich nicht nur aus dem rein Musikalischen, wie es Svetlana Petuchova noch vor drei Jahren in den Mitteilungen der Tschaikowsky-Gesellschaft belegen wollte. Tschaikowsky bezieht sich vielmehr auf die verborgene Qualität des Poetischen in Schumanns Werk, auf das seelische Erleben. So verhilft das Symposium zu einer erfolgreichen Spurensuche, die vom Hamburger Brahms ausgeht und beim Düsseldorfer Schumann landet.
Christoph Ludewig