Corina Kolbe

Bad Kissingen: Kontinuität mit neuen Akzenten

In seiner ersten Saison als Intendant des Kissinger Sommers hatte Alexander Steinbeis einige Neuerungen zu bieten

Rubrik: Bericht
erschienen in: das Orchester 10/22 , Seite 53

Schon 1836 spielten böhmische Musiker vor Kurgästen im bayerischen Bad Kissingen. Die Wiener Symphoniker, die sich damals noch Wiener Concertverein nannten, traten Anfang des 20. Jahrhunderts regelmäßig in einer drehbaren Konzertmuschel in der prunkvollen Wandelhalle auf. Die regen Kulturbeziehungen zu den Ländern der einstigen k.u.k-Monarchie waren dieses Jahr Schwerpunktthema beim Festival Kissinger Sommer. Unter dem Motto „Wien. Budapest. Prag. Bad Kissingen“ wollte der neue Intendant Alexander Steinbeis aber nicht nur auf eine glanzvolle Vergangenheit zurückblicken. „Es war mein Bestreben, das Festival noch offener zu gestalten, ohne auf die Kernbotschaften und das gewohnte Angebot für das Stammpublikum zu verzichten“, erklärte der frühere Orchesterdirektor des Deutschen Symphonieorchesters Berlin (DSO). „Das, was auf der Bühne geschieht, soll dem Publikum möglichst unkompliziert nahegebracht werden.“
In diesem Jahr standen wieder große Sinfoniekonzerte mit renommierten Solist:innen, aber auch Begegnungen mit neuen Talenten und innovative Veranstaltungsformate auf dem Programm. Unter Leitung von Petr Popelka spielte die Tschechische Philharmonie mit viel Verve die Tondichtung Aus Böhmens Hain und Flur aus Bedřich Smetanas Zyklus Mein Vaterland sowie Antonín Dvořáks siebte Sinfonie. Im wegen seiner Akustik zu Recht gelobten Max-Littmann-Saal beeindruckte die Geigerin Isabelle Faust mit Bohuslav Martinůs Violinkonzert Nr. 2.
Die Wiener Symphoniker kamen in diesem Sommer nicht wie geplant mit ihrem bisherigen Chef Andrés Orozco-Estrada, der das Orchester im Frühjahr im Streit verlassen hatte. Bei der Aufführung von Carl Maria von Webers Freischütz-Ouvertüre, Johannes Brahms’ erster Sinfonie und Richard Strauss’ Vier letzten Liedern mit der stimmgewaltigen Sopranistin Lise Davidsen stand nun Einspringer Patrick Hahn am Pult. An ihrem zweiten Konzertabend boten die Wiener Symphoniker außerdem einen bunten Strauß an Walzer- und Operettenmelodien, die an das Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker im Musikverein erinnerten.
Mit dem DSO, den Bamberger Symphonikern sowie den Rundfunk-Sinfonieorchestern von hr, BR und WDR waren auch bekannte deutsche Klangkörper vor Ort. Bei einer After-Concert-Lounge im Schmuckhof im Regentenbau konnten Besucher:innen nach Konzerten bei einem Glas Frankenwein miteinander ins Gespräch kommen und auch Mitwirkende treffen. Kammermusik wurde ebenfalls reichlich geboten. Die Brüder Arthur und Lucas Jussen rissen ihr Publikum mit Igor Strawinskys Le sacre du printemps in der Fassung für zwei Klaviere regelrecht von den Sitzen. Der Cellist Alban Gerhardt und sein Klavierpartner Markus Becker führten im schönen König Ludwig I.-Saal in Bad Brückenau Franz Schuberts Arpeggione-Sonate sowie Stücke von Dvořák, Liszt und Janáček auf. Und das Klavier-Duo Yaara Tal und Andreas Groethuysen wagte sich mit zwei Streichersolisten an Kammerfassungen großer Sinfonien von Schubert und Beethoven.
Zum ersten Mal war das StegreifOrchester dabei, das ohne Dirigent auftritt und klassische Sinfonien durch Improvisationen erweitert. Im Max-Littmann-Saal wurden für diesen Auftritt alle Stühle im Parkett entfernt, damit das Publikum je nach Laune stehen, auf dem Boden sitzen oder sogar liegen konnte. Der Technomusiker Christian Löffler brachte ein Streichquartett mit Live-Elektronik zusammen. Das Ensemble Mini, dem Musiker:innen aus mehreren deutschen Orchestern angehören, stellte Werke von Béla Bartók, darunter die Suite Der wunderbare Mandarin, in eigenen Bearbeitungen für Kammerorchester vor.
Gute Resonanz fanden auch die kurzen Prélude-Konzerte, die an Freitag- und Samstagnachmittagen bei freiem Eintritt an verschiedenen Orten stattfanden. Vor der Spielbank trat beispielsweise ein Streicherensemble der Tschechischen Philharmonie auf. Wiener Symphoniker musizierten vor dem Denkmal für die österreichische Kaiserin Sissi, die mehrmals zur Erholung nach Bad Kissingen gekommen war. Der Gedenkort liegt auf dem Altenberg, wo Sissi gern spazieren ging. Auch wenn der Aufstieg circa eine halbe Stunde dauert, waren immerhin etwa hundert Zuhörer:innen bei diesem Schnupperkonzert anwesend. „Mir ist es sehr wichtig, das Festival auch außerhalb der so genannten Tempel der klassischen Musik hör- und sichtbar zu machen“, sagt Steinbeis. „Wir haben es immer wieder erlebt, dass Leute, die ein solches Prélude hörten, später ein Ticket für das Konzert am Abend gekauft haben. Das hat uns bestätigt, dass das neue Format eine Brücke zu anderen Veranstaltungen schlagen kann.“
Aus seiner Zeit beim DSO importierte er den Symphonic Mob, ein großes Spontanorchester, in dem Laien gemeinsam mit Profis musizieren. „Wir stehen hier vor ganz anderen Herausforderungen als in einer Großstadt wie Berlin. Man muss noch gezielter auf potenzielle Interessenten zugehen, die in vielen kleineren Orten in der Umgebung leben.“ Der Einsatz hat sich offensichtlich gelohnt. Zu ersten Ausgabe des Symphonic Mob in Bad Kissingen kamen bereits rund 300 Teilnehmer:innen aller Altersgruppen zusammen.