Heister, Hanns-Werner / Walter-Wolfgang Sparrer (Hg.)

Komponisten der Gegenwart

41. bis 43. Nachlieferung

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: edition text + kritik, München 2010
erschienen in: das Orchester 07-08/2011 , Seite 67

Wenn man die neuesten Lieferungen der in Loseblattform erscheinenden Komponisten der Gegenwart in Händen hält und in die inzwischen sieben Ordner umfassende Sammlung einsortiert, wird man wieder einmal gewahr, welch immense kollektive Leistung hinter dieser Unternehmung steht. 1992, vor nunmehr fast zwanzig Jahren, begannen die Herausgeber Hanns-Werner Heister und Walter-Wolfgang Sparrer ihr Projekt, das seither unter Mithilfe zahlreicher kompetenter Autoren mit drei bis vier Nachträgen pro Jahr einen stetigen Fortgang gefunden hat.
Von der aktuellen Lexikon-Krise im Zeitalter der schnellen Informationsbeschaffung per Internet sind die Komponisten der Gegenwart anscheinend wenig betroffen. Immer noch erweisen sie sich in ihrer Informationsfülle als konkurrenzlos, was insbesondere den dokumentarischen Teil mit Werkverzeichnissen, Bibliografien, Diskografien und manchmal sogar Videografien betrifft.
Am Puls der Zeit bleiben die neuesten Nachträge, wofür als Indiz gelten kann, dass vereinzelt bereits Komponisten erfasst werden, die ab 1970 geboren sind. Dennoch: Es gibt nach wie vor historische Lücken zu schließen, die bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts zurückreichen. Erst jetzt liegt beispielsweise eine ausführliche Würdigung Hugo Distlers vor, die mit gebotener Zurückhaltung dessen ambivalentes Verhalten in der NS-Ära beleuchtet. Überfällig ist ebenso die Charakterisierung Arthur Louriés, der als russischer Futurist nach 1910 zum Pionier neuer Kompositionstechniken wurde, sich in der westlichen Emigration dann jedoch zum Neoklassizisten wandelte. Eine weitere Lücke schließt der Artikel über Gian Carlo Menotti, der als „Neo-Verist“ mit seinen Bühnenwerken und TV-Opern breite Wirkung erzielte.
Nicht selten bietet die Sichtung der neuen Lieferungen Anregung zur Wiederbeschäftigung mit einzelnen Komponisten oder zu deren Neuentdeckung: etwa des Mexikaners Silvestre Revueltas, „berühmt, aber unbekannt“, weil er stets im Schatten seines Landsmanns Carlos Chavez stand, des Briten Havergal Brian, eines Außenseiters im Musikbetrieb, des zahlreiche stilistische Häutungen vollzogen habenden Dänen Per Nørgård oder von Chou Wen-Chung, einem in China geborenen späteren US-Bürger, dessen Anliegen die „Wieder-Vereinigung östlicher und westlicher Musikkonzepte“ ist.
Bekannt ist, dass die Herausgeber den Rahmen des Lexikonwürdigen weit spannen. So wird mit Grundblatt und Bibliografie sogar der Filmmusik-Spezialist Edmund Meisel gewürdigt, den seine effektvolle musikalische Begleitung zu Eisensteins Panzerkreuzer Potemkin berühmt machte. Und gerne entdeckt man, dass die historische Personalunion von ausführendem und schöpferischem Musiker auch in der Gegenwart wieder häufiger auftritt: etwa bei dem Pianisten Michaël Levinas, dem Gitarristen Ruben
Seroussi und dem Posaunisten Mike Svoboda. Die wenigen hier angesprochenen Artikel mögen Pars pro Toto für eine Arbeit stehen, die im Ganzen zwar unspektakulär voranschreitet, deren Wert aber gar nicht hoch genug geschätzt werden kann.
Gerhard Dietel