Drcar, Alexander und Wolfgang Gratzer (Hg.)

Komponieren & Dirigieren

Doppelbegabungen als Thema der Interpretationsgeschichte

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Rombach, Freiburg
erschienen in: das Orchester 10/2017 , Seite 59

Für Johann Sebastian Bach war es selbstverständlich, für Haydn und Mozart auch noch: die Doppelaufgabe zu komponieren und zu dirigieren. Hat sich doch erst recht spät in der Musikgeschichte die Rolle des Dirigenten als eigenständigem Interpreten herauskristallisiert. Doch bedingen sich Komponist und Dirigent überhaupt gegenseitig, wenn sich beide in einer Person wiederfinden? Welche Rolle spielt der Komponist am Pult, wenn er eigene und/oder fremde Werke dirigiert?
Fragen, die am Institut für musikalische Rezeptions- und Interpretationsgeschichte (IMRI) der Universität Mozarteum Salzburg 2014 und 2016 diskutiert wurden. Die Beiträge der 22 Autoren, die der Fragestellung der Entwicklung der komponierenden Dirigenten, der Wechselwirkungen beider Tätigkeiten und ihrer jeweiligen spezifischen Entwicklung nachspüren, finden sich nun in diesem Band versammelt. Historisch beginnt der Band dann doch bei Haydn und Mozart, ergo zu einer Zeit, in der das Dirigieren, so wie es heute verstanden wird, noch im Entstehen war. Der Dirigent als „Tactierer“ ist weit entfernt von einem leitenden Interpreten wie Pierre Boulez, Hermann Scherchen oder Mauricio Kagel. Und da liegt auch schon das Problem des Bandes: Ist die Rolle des Dirigenten, der seine eigenen Werke aufführt, wie Pierre Boulez, Mauricio Kagel oder Johannes Kalitzke, noch leicht zu fassen, wird es bei Orchesterleitern der Klassik und Romantik, ja selbst des frühen 20. Jahrhunderts recht schwammig. Inwieweit sich die Begabungszwillinge Komponieren/Dirigieren gegenseitig befeuerten oder gar behinderten, bleibt doch recht im Dunklen. Sind komponierende Dirigenten die besseren Orchesterleiter? Haben sie ein tieferes Verständnis für die Schreibe der Kollegen? Oder behindert die eigene, stark ausgeprägte Ästhetik nicht den Blick? Fragen über Fragen, die noch nicht einmal im Anriss behandelt werden. Ausgeblendet wird da leider auch die zunehmende Professionalisierung in der Ausbildung zukünftiger Dirigenten.
Oder ob es nicht sogar die Tripelbegabung (Komponieren, Dirigieren, Instrumentalspiel) ist, die besondere Ergebnisse zu Gehör bringt? Sind Maazels Interpretationen von Mozarts Klavierkonzerten anders, da er selbst das Piano virtuos beherrscht? Klingt ein Orchester unter André Previn anders, da er doch vom Jazz herkommt und mehr oder minder als Dirigent Autodidakt ist? Nein, umfassende Antworten kann und will dieser Band nicht geben; vielmehr lädt er zum Nachdenken über einen Nebenaspekt der Interpretationsgeschichte ein: interessant da, wo die Zeitgenossen ab Ende des vergangenen Jahrhunderts zu Wort kommen; recht nebulös und in lexikalischer Faktenaufzählung erstarrend, wenn es um frühere Beispiele (wie Mozart, Reichardt, Weber, Mendelssohn) geht.
Markus Roschinski