Müller, Sven Oliver / Jürgen Osterhammel / Martin Rempe (Hg.)

Kommunikation im Musikleben

Harmonien und Dissonanzen im 20. Jahrhundert

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2015
erschienen in: das Orchester 10/2015 , Seite 64

In der Einführung zur vorliegenden Aufsatzsammlung heißt es, dass es „keine Meistererzählung musikalischer Kommunikationsprozesse im 20. Jahrhundert geben kann“. Die gesellschaftliche Entwicklung sei dafür einfach zu vielgestaltig und vielschichtig gewesen. Dass sich die „Kommunikation im Musikleben“ in ihren Formen und Funktionen als nahezu undurchdringlich erweist, liegt aber auch am Zugriff auf das Thema, liegt an den weit – vielleicht zu weit – gefassten Kernbegriffen. Denn unter Kommunikation „wird jede artikulierte Handlung verstanden, die eine Beziehung zu einem anderen ermöglicht“. Und unter Musik fällt alles, was mit Musik irgendwie zu tun haben kann: Aufführung, Interpretation, Spielen, Dirigieren, Musikmachen unter sich wandelnden technischen, sozialen und rechtlichen Bedingungen, Hören, über Musik und Musiker reden und schreiben, über Musik lesen, Musik anbieten und aufnehmen, Musik exportieren und aneignen im kulturüberschreitenden Versuch.
Das Buch präsentiert die Arbeitsergebnisse einer Tagung, die im Januar 2013 in Berlin stattgefunden hat. Ihr Thema: „Kommunikationschancen: Entstehung und Fragmentierung sozialer Beziehungen durch Musik im 20. Jahrhundert“. Der Leser erfährt, wie sich im 19. Jahrhundert Musik und Militär präsentiert haben, was das deutsche Publikum 1910 an neuer Musik erlebt und erlitten hat, welche politischen und sozialen Programme die Oper während der Weimarer Republik verfolgte, kann sich en detail über den berühmt gewordenen Mengelberg-Skandal aus dem Jahr 1912 informieren (diesem Dirigenten „fehlt die Fähigkeit zu innerer Anteilnahme an der Musik“, lautete die Kritik an dessen Interpretation der 2. Sinfonie von Johannes Brahms) und bekommt eine Dokumentation zur Selbstdarstellung und Metierbeschreibung von Dirigenten des jungen 20. Jahrhunderts geboten. Für die Fans von Leonard Bernstein gibt es einen – leider ziemlich missglückten – Text zur „unendlichen Vielfalt der Gefühle“.
In einem dritten Komplex kann man etwas lernen über die sozialkulturellen Bedingungen der uns so oft verblüffenden Fähigkeiten des modernen Japan, sich westliche Musik anzueignen. Außerdem liest man Einzelheiten über ein spezielles Kapitel der protestantischen Mission in Afrika um 1900. Sie lief nämlich auch über die Musik. Auf das Musikleben im spätkolonialen Schwarzafrika mit seinen Mixturen von Kunst und Folklore richtet sich ebenfalls ein Blick. Schließlich widmen sich zwei Aufsätze der Popkultur und dem damit in Kommerz und Kunst neu verbundenen und abgespaltenen modernen Publikum.
Beschlossen wird der Band mit einem begriffskritischen Text über das Thema als Gegenstand der Historiografie. Obwohl er den Schlusspunkt setzt, hätte ich ihn – rückblickend betrachtet – gern zu Beginn gelesen, denn er schärft den Blick für das gesamte Themenfeld.
Fazit: Man bekommt viel Material geboten und kann dank der Literaturverweise vertiefen, was einen interessiert.
Kirsten Lindenau

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