Ingo Hoddick

Köln: Eierschneider verbinden Cembalo und Orchester

Das Gürzenich-Orchester Köln setzt seine Reihe „Bruckner der Moderne“ fort

Rubrik: Bericht
erschienen in: das Orchester 12/2022 , Seite 53

Der Höhepunkt der neuen Saison 2022/23 des Gürzenich-Orchesters Köln war gleich das erste Abokonzert im September. Die erste Hälfte der Programms enthielt nur ein einziges und einsätziges Werk, das zudem kaum mehr als 20 Minuten dauert. Es war die Uraufführung Standstill für Cembalo und Orchester von dem 1975 in Tschechien geborenen Miroslav Srnka, dessen Werke längst auf den erlesensten Podien gespielt werden, dessen antarktische Oper South Pole 2016 an der Bayerischen Staatsoper aufsehen­erregend uraufgeführt wurde und der seit 2019 Professor für Komposition an der Kölner Hochschule für Musik und Tanz ist. Das neue Werk verdankt seine Atmosphäre, also äußeren Stillstand und innere Unruhe, den Erfahrungen der beiden Corona-Lockdowns. Das leise und „barocke“ Cembalo ist ja gewissermaßen ein Gegenbild zu allem, was ein auf Lautstärke und Legato getrimmtes „modernes“ Orchester ausmacht. Srnka versuchte nun gar nicht erst, dieses Solo­instrument konzertant gegen das Tutti auszuspielen, sondern machte es lediglich zur führenden Klangfarbe in einem dezent wabernden Klangstrom. Das ermöglichte ihm eine recht starke Besetzung, unter anderem mit drei Posaunen und Klavier sowie drei Schlagwerkern (überwiegend an Xylofon, Vibrafon und Marimba) – und auch ein Akkordeon, um den Aspekt der atmenden Akkorde zu akzentuieren. Zu Beginn stellen von den Streichern gespielte Eierschneider, resonierend auf dem Korpus der Streichinstrumente, eine Verbindung zwischen Cembalo und Orchester her.
Ganz nebenbei entstand hier eine neuartige, extrem dichte Schreibweise für das Cembalo, mit flüssigen Clustern und fliegenden Girlanden. Der Solist Mahan Esfahani, geboren 1984 im Iran und aufgewachsen in den USA, ist Kölns neuer Artist in Residence. Er verwirklichte Srnkas extreme Anforderungen federleicht und bedankte sich für den Applaus mit einem kurzen Stück von Domenico Scarlatti.
Nach der Pause setzte GMD und Gürzenich-Kapellmeister François-Xavier Roth seine lose Konzertreihe „Bruckner der Moderne“ fort – am von mir besuchten Abend in der zu zwei Dritteln gefüllten Kölner Philharmonie. Damit soll zum einen das Zukunftsweisende in der Musik von Anton Bruckner gezeigt und zum anderen jeweils ein neueres Werk damit konfrontiert werden. Es erklang die 1872/73 (also vor 150 Jahren) entstandene, einstündige Erstfassung von Bruckners Sinfonie Nr. 3 d-Moll. Mit ihr erreichte der gebürtige Oberösterreicher in Wien endgültig seinen Reifestil. Man nennt sie auch „Wagner-Sinfonie“, weil Bruckner sie Richard Wagner widmen durfte und darin einige Zitate von seinem großen Vorbild anbrachte – auch wenn es weniger sind, als früher darin „gefunden“ wurden. Zumindest gibt es ein paar Passagen aus Wagners Oper Tristan und Isolde – das Sehnsuchtsmotiv dient in der Dramaturgie der Sinfonie im Anschluss an die streng katholische „Marien-Kadenz“ (ein Zitat aus seiner eigenen Motette Ave Maria von 1856, dort eben auf das Wort „Maria“) offenbar als klangliche Verkörperung des „Großen Verführers“.
Miroslav Srnka freute sich übrigens über die Programm-Verbindung mit seinem Standstill. Im Programmheft äußerte er sich über Bruckner wie folgt: „Innerhalb des so dramatischen 19. Jahrhunderts schuf er Stücke, die nach außen auch dramatisch klingen mögen, aber in sich diese Ruhe haben. Diese absolute Konzentration, die in keinem Konflikt verlassen wird.“ Nachdem er die erste der drei Aufführungen erlebt hatte, sah Srnka sogar noch direktere Parallelen zwischen den beiden Werken: „Mein Stück kommt aus der Stille und geht in einem großen Bogen wieder zurück in die Stille. Bruckner setzt die Stille an die Stelle von Übergängen – nach der Stille kann die Musik eine komplett andere sein.“
Als Dirigent lieferte Roth eine erstklassige Interpretation der Dritten, mit durchweg zügigen Tempi selbst an der einzigen von Bruckner ausdrücklich mit „rubato“ bezeichneten Passage. Bruckners Überwältigungs-Polyfonie drohte bei Roth manchmal in Klangflächen zu kippen. Aber das Gürzenich-Orchester schaffte es immer wieder, recht sinnliche Klangfarben zu exponieren. Es war bewundernswert, wie das städtische Orchester die von der Komposition und seinem künstlerischen Leiter geforderte höchste Konzentration fast immer durchhielt. Der Jubel des Kölner Publikums war groß, weil man ein solches Ereignis nicht alle Tage erlebt.
In der laufenden Saison des Gürzenich-Orchesters sind manche Konzerte nach einem ähnlichen Muster gestrickt. Ein weiterer Höhepunkt wird wahrscheinlich das zehnte Abo-Konzert am 7. Mai, um 11 Uhr, sowie am 8. und 9. Mai, jeweils um 20 Uhr. Das Raschèr Saxophone Quartet präsentiert dann die eher wilde Uraufführung Evil Elves: Level Eleven für Saxofonquartett und Orchester von Bernhard Gander, GMD Roth ergänzt mit Bruckners Sinfonie Nr. 6 A-Dur, der Komponist nannte sie seine „keckste“.