Frieder Reininghaus

Köln: Das falsche Signal

Konzert zu „75 Jahre WDR Sinfonieorchester“

Rubrik: Bericht
erschienen in: das Orchester 01/2023 , Seite 60

Die Apsis hinter der Bühne der Kölner Philharmonie war erfüllt von den Mitgliedern des WDR Rundfunkchors, des NDR Vokalensembles sowie den Knaben und Mädchen der Kölner Dommusik. Aber sie mussten sich noch ein Stündchen gedulden, bis sie mit der massiv-imposanten Anrufung der Glücksgöttin Fortuna zum Zuge kommen sollten. Erst einmal versuchte WDR-Intendant Tom Buhrow, die gängigen Zugangswege von Musik zu den Herzen und Köpfen in die rechte Reihenfolge zu sortieren. NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst belobigte sodann den Jubilar, das Sinfonieorchester des Westdeutschen Rundfunks in Köln, als „ein mutiges Zeichen der Hoffnung“. Dabei ist der zum Einsatz bereitsitzende Klangkörper weder primär Herzenstüröffner noch Hoffnungswindmühle. Es handelt sich um ein von den Gebührenzahlern finanziertes großes Ensemble von Musiker:innen, das wechselnden kulturpolitischen Zielsetzungen unterworfen wurde. Seit 1947 positionierte es sich im vorderen Feld der westdeutschen Orchesterlandschaft. Zuletzt profilierte es sich unter Leitung des neuen Chefdirigenten Cristian Măcelaru bei einer Sommer-Tournee nach Hamburg, Amsterdam, Dänemark und den Londoner Proms.
Beim Jubiläumskonzert „75 Jahre WDR Sinfonieorchester“ in Köln setzte nach den Grußworten die kleine Trommel den musikalischen Auftakt. Schärfere Bläser- und Streicher-Dissonanzen spreizten sich zu tumultuarischen Passagen, die in raschem Wechsel mit elegischen Episoden die bunte Klangfarblandschaft von Zosha di Castris Pentimento, dem Auftragswerk des Orchesters, exponierten. Doch bevor sich die kont­rastreichen musikalischen Gesten und Bildmotive entfalten konnten, senkte Măcelaru schon wieder seinen Taktstock. Dem Klangresultat der Orchesterbagatelle war nicht zu entnehmen, dass die 1985 in Calgary geborene Komponistin zum Nachdenken über „Brutalität der Polizei, Waffengewalt, das Schwanken der Politik zwischen den Extremen und die verheerenden Wellen der Pandemie“ anregen will. Das bleibt bloße Behauptung des Programmhefts, dem umsichtige Redaktion erspart blieb. Pentimento wirkte wie ein Alibistück, dessen Format und Resultat keine besondere Wertschätzung für die Erkundung von Neuem verrieten. Noch vor einem halben Jahrhundert engagierte sich der Auftraggeber maßgeblich auch für die vor 1945 von der offiziellen Kulturpolitik ausgeschlossenen Komponist:innen, trat regional und international als Protagonist der neuen Musik in Erscheinung – gerade auch der als „radikal“ wahrgenommenen.
Zu der gehörte Witold Lutosławskis Orchesterkonzert schon bei der Uraufführung 1954 in Warschau nicht. Freilich konnte der WDR-Klangkörper mit ihm eine disziplinierte Leistung demonstrieren, insbesondere auch die ersten Pulte der Bläser zur Geltung gelangen lassen. Mit seinen folkloristischen Anklängen kann sich das Werk seiner Publikumswirkung ziemlich sicher sein.
Dies trifft auch auf Carl Orffs Carmina Burana zu. Mitte der 1930er Jahre vergegenwärtigten sie ein illustres Konvolut mittelalterlicher Vagantendichtung mit raffiniertem Primitivismus. Orffs spektakulärer Zyklus erwies sich neben Egks Peer Gynt als eine der wenigen ernsthaft vorzeigbaren Arbeiten des NS-Musiktheaterbetriebs. Dem Vernehmen nach hat sich das Orchester dieses Stück zu seinem Geburtstag nicht gewünscht. Es dennoch zu positionieren, scheint eine kulturpolitische Demonstration gewesen zu sein. Aber Intendant Buhrow steht auch innerbetrieblich unter Beobachtung, u.a. wegen seinen vor dem Hamburger Übersee-Club lancierten „Reform“-Vorschlägen, die sämtliche Klangkörper der ARD zur Disposition stellten.