Lena-Lisa Wüstendörfer
Klingender Zeitgeist
Mahlers „Vierte Symphonie“ und ihre Interpretation um die Jahrtausendwende
Mahlers Musik boomt. Das Wie und Warum versucht Lena-Lisa Wüstendörfer in ihrer jüngst in München veröffentlichten Dissertation in unterschiedlichen Interpretation von Gustav Mahlers 4. Symphonie nachzuweisen. Dabei arbeitet sie im schwierig zu fassenden Fachbereich „Interpretationsforschung“ in einem zudem noch sehr jungen Zweig der Musikwissenschaft, die „in interdisziplinärer Verbindung der Wahrnehmungspsychologie oder Rechnergestützter Wissenschaften“ Interpretationsmerkmale analysierend zu objektivieren versucht. Also wohl das zu beweisen versucht, was wir als Rezipienten und insbesondere Musikkritiker beim Anhören von ein und demselben Musikstück seit je versuchen: nämlich bestimmte Merkmale der Interpretationstilistik herauszufiltrieren und diese in assoziationsschwere Worte zu formen.
Zehn verschiedene Aufnahmen, aufgrund eines transparenten Kriterienkataloges und von professionellen Interpreten eingespielt (unter anderem von Haitink, Abbado, Rattle, Boulez oder Norrington), hatte die Autorin ausgewählt, um sie analytisch genau zu vermessen. Nach nicht gerade einfach zu lesender Darlegung der methodischen Grundlagen vermaß sie die Kopfsatz-Exposition und dort zunächst insbesondere die Tempoverläufe – also wirklich objektivierbare Kriterien –, wobei sie eine Analyse-Software (Sonic Visualiser) benutzte. Dabei verfolgte sie die Absicht, die klangliche Interpretation als eigenständige Manifestation der Komposition zu behandeln, also „die formale Gliederung der Komposition nicht aus der Partitur abzulesen, sondern dem jeweiligen Klangobjekt selbst abzugewinnen“, wobei sie feststellte, dass eine exakte Berechnung schwierig war, „weil die Koordination des Orchesters nicht immer so genau war, dass sich der metrische Impuls eindeutig in einem Punkt festmachen ließe“. Messfehler mussten gerundet werden. Und dann: „Bereits die Eröffnungstakte zeigen grundlegende Differenzen hinsichtlich der Zeitgestaltung.“
Die nachfolgenden Seiten weisen nun mehrere Diagramme auf, die den Verlauf des Kopfsatzes mit den jeweiligen Dirigenten aufzeigen, die sich aber – erwartungsvoll banal – ähneln. Als nächsten Schritt ermittelt die Autorin die Grundtempi zum arithmetischen Mittel. Die Werte des binären Logarithmus der Tempoverhältnisse finden sich in einer weiteren, staunenswerten Tabelle und kulminieren gar in einer Formel, angesichts derer der geneigte Leser spätestens jetzt verzweifelt.
„Durch den Einbezug der formalen Gliederung der Musik“, so Wüstendörfer resümierend, seien „exemplarisch auch Erkenntnisse über eine klangliche Exegese“ von Mahlers Musik zu gewinnen. Ähnliche interpretationsstilistische Tendenzen bedingten nicht auch eine übereinstimmende Werkexegese. Andererseits würden „die in der Zeitgestaltung manifestierten, unterschiedlichen Anlagen der Exposition“ der Vierten in ihren formalen Deutungen „auf entsprechende Tendenzen der musikwissenschaftlichen Mahler-Interpretation“ deuten.
Werner Bodendorff