Anna Schürmer

Klingende Eklats

Skandal und Neue Musik

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: transcript
erschienen in: das Orchester 06/2018 , Seite 60

„Papa des Techno“ macht Skandal! Anna Schürmer widmet sich in ihrer Dissertation einem Thema, das fast schon Geschichte ist. Denn wer macht noch Wirbel um ein Kunstwerk, wenn es nicht um genderkorrekte Modifikationen nach heutigen Maßstäben geht? Der Schlusspunkt ihrer umfangreichen Darstellung ist der 28. Februar 2016. Da schallte es dem iranischen Pianisten Mahan Esfahani bei einem Konzert in der Kölner Philharmonie entgegen: „Sprechen Sie gefälligst Deutsch!“ Es ging nicht um das Programm oder Positionsbestimmungen, sondern um Politik.
Die Zeit des Nationalsozialismus wird von Anna Schürmer als skandal- und eklatlose Periode definiert, weil es damals wie in anderen totalitären System betreffend Werkauswahl von Seiten der Veranstalter und nach außen zustimmenden Reaktionen kaum Nischen für kontroverse Impulse gab. Am Beispiel prägender Ereignisse aus der europäischen Musikgeschichte bewegt sich die Dissertation durch das 20. Jahrhundert. Die Autorin definiert den Unterschied zwischen Skandal und Eklat, dann die Abkehr vieler Strömungen der Neuen Musik vom bürgerlichen Publikum. Spontane, unerwartete, rituelle, gruppenintern legi­time oder sanktionierende Reaktionen in öffentlichen, geschlossenen und akademischen Aufführungskontexten werden von ihr dargestellt und analysiert. Das reicht bis zum Phänomen des „Skandals der ausbleibt“ (Heinz Steinert). Zu „Inszenierungsstrategien“ zählt sie teilweise Schocks durch Präsentationen, etwa als in den Kinderjahren der Elektronischen Musik das technische Equipment für „entmenschlichtes“ bzw. „übermenschliches“ Tonmaterial ohne Interpreten auf den Podien stand.
Spannend sind die Kapitel über die „chronique scandaleuse“ der Donaueschinger Musiktage und die Darmstädter Ferienkurse als „agonale Ereignisgeschichte“, d.h. als Entwicklung in parteien- und koalitionsähnlichen Diskurssituationen bis zur Umkehrung skandalisierender Anlässe: Ein solcher waren Hans Werner Henzes „retroharmonische“ Kompositionen als Reaktion auf die von Luigi Nono, Pierre Boulez und Karlheinz Stockhausen geprägte serielle Hochphase.
Die abnehmende Bedeutung des Skandalmachens zeigt sich in der Verbreitung von Errungenschaften der „Elektronischen Musik“ im „Elektropop“, der von dessen frühem Aktionisten Karlheinz Stockhausen vorbehaltsfrei und enthusiastisch rezipiert wurde.
Anna Schürmer schließt mit einem Kapitel über Reaktionen auf die nicht-narrativen Musiktheaterwerke Intolleranza von Nono, Staatstheater von Kagel und Floß der Medusa von Henze. Sie befragt akus-tische und visuelle Dokumente, kommt jedoch auch an Grenzen. Unberücksichtigt bleiben thematisch bedingte Skandale vor 1933 wie Kurt Weills Mahagonny und die skandalfreie Auseinandersetzung nach 1968 mit in reifen Jahren gefeierten Musikrebellen wie Henze bei der Münchener Biennale für Neues Musiktheater oder Stockhausens Licht-Zyklus an der Mailänder Scala und der Oper Leipzig. Der Hauptschauplatz dieser Arbeit ist Mitteleuropa in der langen Nachkriegszeit.
Roland H. Dippel

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