Piernay, Rudolf

Klassischer Gesang

als Beruf und Berufung. Geschichte, Ausbildung, Praxis

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Bärenreiter/Henschel, Leipzig 2012
erschienen in: das Orchester 11/2012 , Seite 76

Als ich das Inhaltsverzeichnis dieses Buches las, habe ich zunächst einmal gestaunt. Anders als bei anderen Büchern über Gesang und Stimme geht es bei der stimmlichen Ausbildung um die Voraussetzungen der Studenten und des Lehrers, um die Aufnahmeprüfung und um den erwachsenen Sänger. Die Themen machten mich neugierig, und ich las, dass man eine Stimmbegabung braucht, klangliche Qualität, Durchhaltekraft und Belastbarkeit des Organs. Als häufigste Fehlerquellen werden genannt das Zu-Laut-Singen und das Zu-Hoch-Singen. Es folgt eine Beschreibung dessen, was der Lehrer erwartet, wenn ein zukünftiger Schüler ihm vorsingt. Außerdem ist es wichtig, dass der Lehrer nicht allein ein erfahrener Sänger ist oder war, sondern auch pädagogisches Geschick hat und Technik- und Literaturkompetenz besitzt. Im nächsten Kapitel folgen Hinweise darauf, dass die Anforderungen an den Musikhochschulen unterschiedlich sind, sodass es ratsam ist, sich an mehreren Hochschulen gleichzeitig zu bewerben. Es folgen Hinweise darauf, dass die Möglichkeiten im Repertoire anfangs begrenzt sind und wie weit man fremdsprachiges Repertoire benutzen soll (z.B. bei einem zweisprachigen Elternhaus). Der erwachsene Sänger sollte eventuell statt einer Solokarriere auch eine Stelle in einem Opernchor in Betracht ziehen. Der Sänger, der es ins Engagement schafft, möge bedenken, dass damit nicht alles erreicht sei. Ein ständiges Weiterarbeiten ist dann nötig.
Nachdem ich dies alles gelesen hatte, staunte ich immer noch. Selbst Sängerin, waren mir (und meinen Kommilitonen) diese Dinge nach kurzer Zeit des Studiums klar. Warum schreibt also ein Mann, der diesen Beruf durch und durch kennt, solche scheinbaren Banalitäten? Ich vermute, dafür gibt es einen guten Grund. Im Zeitalter der Superstar-Karrieren und der schnellen Präsenz in den Medien ist es jungen Menschen wohl nicht mehr klar, dass ein klassischer Sänger noch vor 40 Jahren erst dann von einer großen Öffentlichkeit wahrgenommen wurde, wenn er wirklich groß war. Immer noch ist mir in Erinnerung die Frage einer Studentin aus dem Buch von Edda Moser: “Können Sie mich nicht an die Met bringen?” Wenn diese jungen Menschen ihre Stimmarbeit in hoher Disziplin und mit aller Konsequenz leisteten, dann wüssten sie das alles, was Piernay in seinem Buch beschreibt: Sie würden es im wahrsten Sinn des Wortes am eigenen Leib erfahren. Erst aus der Disziplin und Pflichterfüllung – Begriffe, die verstaubt wirken, aber nie ihre Gültigkeit verlieren werden – entstehen Sängerpersönlichkeiten, die eine Wirkung haben, die etwas bewegen können, die etwas zu sagen haben. Wenn Studenten nicht mehr Sänger sein, sondern Sänger werden wollen, wenn sie bereit sind, den Weg zu gehen, dann werden sie eine große Befriedigung in ihrem Beruf finden. Wenn sie aber aufgrund ihrer Selbsteinschätzung die Begrenzung ihrer Begabung nicht erkennen, dann ist dieses Buch vielleicht eine wirkungsvolle Unterweisung.
Annette Brunsing