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Tobias Hömberg

„Klassische“ Musik in der Schule

Didaktische Konzepte für den heutigen Musikunterricht

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: das Orchester 02/2022 , Seite 24

Im schulischen Musikunterricht bildete „Klassik“ über viele Jahrzehnte ein unbestritten exponiertes Thema. Unter wechselnden Vorzeichen verschiedener Bildungsziele behauptete sie ihre Vorrangstellung in Lehrplänen und Unterricht. Angesichts einer kulturell globalisierten und diversifizierten Alltagswelt von Kindern und Jugendlichen ist dieses Primat heute musikpädagogisch zweifelhaft geworden: „Klassische“ Musik in der Schule verlangt nach neuen Begründungen und Ansätzen.

Der veränderte Stellenwert, der „klassischer“ Musik aus musikpädagogischer Sicht heute zukommt, beruht auf dem Zusammenspiel veränderter Erkenntnisse, Haltungen und Paradigmen. Sie betreffen die Einstellungen Jugendlicher zu „Klassik“, die Bewertung verschiedener Musiken sowie ihr zunehmend praxiales, d. h. auf die musikalische Praxis ausgerichtetes Verständnis. Die folgenden Schlaglichter zeigen zunächst, wie sich damit auch die Ziele und Aufgaben zu „klassischer“ Musik im Musikunterricht ändern. Anschließend werden einige didaktische Konzepte skizziert, die diese Ziele und Aufgaben mit verschiedenen Ansätzen aufgreifen.

Jugendliche Einstellung zu „Klassik“

Seitdem „klassische“ Musik ab den 1950er Jahren im Unterricht etabliert wurde, ist unübersehbar, dass sie den Vorlieben von Schülerinnen und Schülern eher selten entspricht. Jugendliche Präferenzen für Rock- und Popmusiken wurden mit musikdidaktischen Konzepten früherer Jahrzehnte nicht nur oft leichtfertig übergangen, sondern teils bewusst unterdrückt und gezielt abgewertet. „Klassik“ wurde zur Gegenspielerin popkultureller und massenmedialer Musiken stilisiert. In manchem Unterricht wirkt diese Konfrontation bis heute fort: Wo „klassische“ Kunstmusik als von Lehrenden bevorzugtes, höherwertiges Kulturgut dargeboten wird, erwächst Ablehnung durch diejenigen, die sich dieser Kultur nicht zugehörig fühlen. Dabei scheinen stereotype Vorbehalte genährt, die viele Jugendliche ihr ohnehin entgegenbringen: Es handle sich um Musik, der vornehmlich ältere Menschen gebildeter Schichten anhängen, von denen sie sich wiederum abgrenzen wollen.
Gleichwohl belegt die musiksoziologische Präferenzforschung, dass Jugendliche erklingender Musik von Vivaldi, Mozart oder Tschai­kowsky oft aufgeschlossener gegenüberstehen, als es ihre Beurteilung von Stilen „klassischer“ Musik vermuten lässt. Musikpädagogische Studien mit Titeln wie „Klassik, nein Danke?“ und „Null Bock auf Klassik?“ zeigen, dass deren pauschale Ablehnung selbst eine stereotype Einstellung ist, die sich in realer Begegnung mit „klassischer“ Musik in Konzert oder Oper, aber auch in ansprechender Vermittlung im Unterricht verändern lässt. Die pädagogische Aufgabe besteht demzufolge zuerst darin, Offenheit für diese Musik zu fördern.

Gleichwertigkeit von Musiken

Nach heutiger musikpädagogischer Auffassung reiht sich „klassische“ Musik nunmehr in die zahlreichen globalen Musiken ein, die Gegenstand von Musikunterricht sein können: etwa Free Jazz, mongolischer Kehlgesang, Electro oder eben klassisches Klavierkonzert.
Der – im Kern mutmaßlich eurozentrische – Anspruch einer vermeintlichen Höherwertigkeit „klassischer“ Kunstmusik wird damit zurückgewiesen. Vielmehr werden unterschiedliche Möglichkeiten ihrer Bewertung eingeräumt, je nachdem, ob beispielsweise Kriterien wie Kunstfertigkeit, Tanzbarkeit, Spiritualität oder Subversivität angelegt werden.
Die prinzipielle Gleichwertigkeit von Musiken wurde zuerst von einer inter- bzw. transkulturell orientierten Musikpädagogik postuliert. Aus dieser Perspektive wird heute auch die lange beanspruchte Legitimierung, „Klassik“ im Unterricht sei Teil der kulturellen Tradition von Schülerinnen und Schülern, hinterfragt: Jugendliche in Deutschland haben unterschiedliche Herkünfte und sie sind gesellschaftlich wie medial von einer immensen kulturellen Diversität umgeben, die zu vielfältigen musikalisch-kulturellen Selbstverortungen einlädt. Damit erscheint es als gebotene Aufgabe, auch in der Schule verschiedenste Musiken zu thematisieren – neben anderen unverzichtbar die „klassische“ Musik in ihren ganz spezifischen Eigenheiten.

„Klassische“ Musik als Praxis

Schließlich befindet sich auch der Musikbegriff, der musikdidaktischen Konzepten zugrunde liegt, im Wandel. Ging mit der Vorrangstellung der „klassischen“ Musik im Unterricht lange das Verständnis einher, Musik sei mit musikalischen Werken gleichzusetzen, etabliert sich in der Musikpädagogik zunehmend eine kulturwissenschaftliche Vorstellung, wonach Musiken als soziale und kulturelle Praxen aufzufassen sind. Gemäß dieser Vorstellung sind es menschliche musikalische und musikbezogene Handlungen, durch die eine jede Musik überhaupt nur existiert.
Die konventionalisierte Praxis „klassischer“ Musik besteht etwa in ihrer notengebundenen Komposition, ihrer konzertanten Präsentation und ihrer konzentrierten Rezeption. Viele Kinder und Jugendliche wiederum pflegen mit ihrer Musikauswahl und ihren Weisen des Musikhörens, Tanzens, Musikmachens oder Musik­recherchierens im Alltag eigene musikalische Praxen, heute oft in Verbindung mit digitalen Medien. Für den Musikunterricht folgt aus dem praxialen Paradigmenwechsel die Aufgabe, Schülerinnen und Schüler auch die Teilhabe an „klassischer“ Musikpraxis zu ermöglichen, diese spezielle Praxis mit Blick auf die Vorbehalte und Zurückhaltungen gegenüber „Klassik“ aber ebenso gemeinsam zu erweitern.

 

Lesen Sie weiter in Ausgabe 2/2022.