Berthold Seliger
Klassikkampf
Ernste Musik, Bildung und Kultur für alle
Der verführerische Titel Klassikkampf. Ernste Musik, Bildung und Kultur für alle der neuen Publikation von Berthold Seliger verfing auch bei mir, zumal sie sich als zukunftszugewandt wie auch auf Alt-68er-Erkenntnissen basierend präsentierte. Und aktuelle Eyecatcher für kritische Musikkenner gibt es obendrein: Es geht um das Höhlengleichnis, Steuersparmodelle, um Überalterung, Markenbildung, Vermarktungspotenzial, um Pegida im Konzertsaal, um Popklassik als Antwort auf Sinnsuche, um Geheimcodes, um Eventkultur, um ästhetischen Terrorismus, um das Politische in der Musik, um die GEMA, um Neoliberalismus, um Wissen, das in ökonomische Werte umgemünzt wird, um ideologische Netze, Flucht aus dem Arbeitermilieu, um duale Bildung, um Humanitas, auch um Musik und die Spuren des Politischen in der Musik. Es geht nicht um Genderaspekte, Interkulturalität und Me too.
Der offenkundig vielbelesene, sehr schnell durch die Musiksekundärliteratur eilende Konzertunternehmer Berthold Seliger präsentiert als Rosinenpicker die von ihm goutierten Stellen; manchmal in lexikonmäßiger Aufzählung, manchmal als stolzer Ausgräber vieler (eher bekannter) Texte und vieler Quellen, die letztlich doch zusammenschrumpfen hauptsächlich auf Autoren wie Theodor W. Adorno, Helms, Metzger, Knepler, Frederic Sczewski, Gerhaher, Schleuning oder Gulda, aufgefrischt durch hier einen Satz von Eribon, dort durch Verweise auf Schiller, Konfuzius und Max Weber. Gewürzt wird das Konglomerat durch Zeitungsartikel und Künstlermemoiren, fleißig gesammelt in digitalen Zettelkästen. Es lässt den Leser manchmal angeregt, öfters jedoch frustriert zurück, denn die Bildung suggerierende Fülle verdeckt analytische Strukturen (bzw. deren Fehlen). Seliger nippt geschmäcklerisch an vermeintlich Exquisitem, aber damit auch klar deklarierend, wer und was die Elite ausmacht. Daran lässt er ab und zu seine Leser teilhaben, indem er YouTube-Links angibt. Diese Möglichkeit, abgelegene Besonderheiten kennenzulernen, macht einen beträchtlichen Anteil dessen aus, was den Leser dazu bringt, dieses Buch doch nicht wegzulegen.
Ebenso ein Gewinn sind manche aufgeworfenen Fragen wie die nach dem vom Komponisten gemeinten und vom Interpreten dargestellten Werk und die Frage nach dem Eigentlichen, nach dem Widerspruch und den Abweichungen zwischen dem vom Komponisten gewollten und festgehaltenen Text und der Interpretation, die das Werk ja erst zum Leben bringt.
Dennoch wiegen sie die Tendenz zur Oberflächlichkeit des tiefgründig daherkommenden Buchs nicht auf. Seliger hatte sich Großes vorgenommen; er wollte sowohl das gesamte Musikleben wie auch den Werkekanon hinterfragen und diesen nach Möglichkeit erschüttern; wirft Fragen auf zu Marktverhältnissen, zu einer Neufestlegung der Definitionen von U- und E-Musik, zu eigener und fremder Kultur (und, ahnungslos, nach Bildung). Vordergründig so kenntnisreich, ist Seligers größter Mangel das Defizit an eigener und neuer Erkenntnis.
Dorothea Kolland