Ute Grundmann

Klassik vor Reichsadler und Rittern

Tradition seit 1958: Das 400. Wartburgkonzert im Zeichen europäischer Ost-West-Geschichte

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: das Orchester 11/2022 , Seite 28

Früher zogen Pferde armdicke Kabel den Berg hinauf, heute gibt es hoch über Eisenach sogar ein Tonstudio: Seit 1958 klingen die Wartburgkonzerte in Ost und West aus dem Radio.

Pünktlich, 19.30 Uhr, das rote Lämpchen: Wir sind auf Sendung. Der Sprecher tritt an das große, kunstvoll geschnitzte Pult, an dem schon Franz Liszt dirigiert haben soll. „Hier ist der Deutschlandsender. Aus dem Festsaal des Palas der Wartburg übertragen wir das erste Wartburgkonzert …“ So begann es am 21. Juni 1958, natürlich mit Kompositionen von Johann Sebastian Bach. Das rote Lämpchen leuchtet immer noch, wenn Deutschlandfunk Kultur hoch oben über Eisenach ein Konzert veranstaltet und sendet – am 29. April 2022 geschah das zum 400. Mal. Zu diesem Jubiläum gönnte man sich ein extravagantes Programm: Der litauische Solist Martynas Levickis gesellte den Werken von Antonio Vivaldi, Richard Galliano und Karl Jenkins die Klänge seines Akkordeons zu, unterstützt vom Ensemble Mikroorkéstra.
Damit erfüllte sich, was Redakteurin Bettina Schmidt seit vielen Jahren für diese Reihe anstrebt: „Mir ist wichtig, dass jede Sparte der klassischen Musik, die in dem Saal funktioniert, im Verlauf der Spielzeit vertreten ist.“

Geschichtsträchtig
Und so erblühte Vivaldis „Frühling“ diesmal auch auf den Tasten des Schifferklaviers. Über gezupfte Celli und schrille Geigen setzte Levickis hohe Akkordeon-Triller, die die Violinen aufnahmen. In seiner Bearbeitung des „Hits, den ich sehr oft gehört habe“, ließ der litauische Solist sein Instrument auch über das dunkel-weiche Fundament von Cello und Kontrabass tänzeln und dröhnen. Dieser Frühling endete eher schroff, Sommer und Herbst kamen eher verhalten daher. Der Winter klang dann zunächst Vivaldi-gewohnt, bis das Akkordeon erst leise, dann mächtig Alarm machte; es riss auch Schrunden in die Schneestimmung, bis sie ins Surreale zerstob.
„In Deutschland ist die Konzertreihe die älteste und geschichts­trächtigste im Radio“, konnte Stefan Raue, Intendant des Deutschlandradios, nach dem „Frühling“-Auftakt stolz verkünden. Und, so hätte man ergänzen können, die Wartburgkonzerte sind eines der wenigen DDR-Kulturprojekte, die die Wende unbeschadet überstanden haben. Im Gründungsjahr 1958 waren die politischen Zeiten offenbar günstig. Die Mauer war noch nicht gebaut, in Deutschland Ost und West gab es jeweils einen Kulturbund. Und die Wartburg wurde schon früher als Symbol der Einheit Deutschlands genutzt: Von 1953 bis 1956 trafen sich hier alljährlich deutsche Sänger, um „das Hohe Lied der deutschen Einheit von den Zinnen der Wartburg“ zu zelebrieren. 1600 Sänger ließen sich so durch das deutsche Lied „untrennbar verbinden“.

Lesen Sie weiter in Ausgabe 11/2022