Kolbe, Corina

Klassik im Kongo

Das "Orchestre Symphonique Kimbanguiste" ist das einzige sinfonische Orchester Zentralafrikas. Ein Film dokumentiert seine Arbeit

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: das Orchester 03/2011 , Seite 30
Als das Orchestre Symphonique Kimbanguiste vor 15 Jahren gegründet wurde, teilten sich wenige musikbegeisterte Amateure die noch weniger vorhandenen Instrumente. Heute treten bei manchen Konzerten über 200 Musiker auf, Instrumente sind noch immer Mangelware. Viele Orchestermitglieder bauen sich ihres selbst und tragen es auf stundenlangen Fußmärschen zum Konzert, das Sammeltaxi ist zu teuer. Das Leben in der Zehn-Millionen-Metropole Kinshasa ist chaotisch und anstrengend, beim Musizieren kann man zumindest stundenweise wunderbar daraus entfliehen.

Tiefe Pfützen durchziehen ungepflasterte Straßen, auf denen zahlreiche Menschen zwischen klapprigen Autos und knatternden Motorrädern zu Fuß unterwegs sind. Der Himmel über ihnen ist stählern, kein Sonnenstrahl dringt durch. Ein Tag wie viele andere in einem Armenviertel der Zehn-Millionen-Einwohner-Stadt Kinshasa, der Hauptstadt der Demokratischen Republik Kongo. Doch hinter einem Wellblechzaun, nur wenige Schritte von baufälligen Häusern entfernt, öffnet sich plötzlich eine neue Welt: Sänger und ein Orchester proben auf einem Parkplatz den Gefangenenchor aus Verdis Oper Nabucco.
In ihrem Film Kinshasa Symphony haben Claus Wischmann (Buch und Regie) und Martin Baer (Regie) ein für Zentralafrika einzigartiges Orchesterprojekt dokumentiert. Jenseits aller Elendsklischees zeigen die beiden Filmemacher, wie Beethoven, Händel und Ravel Laienmusikern in einem der ärmsten Länder der Welt dabei helfen, für einige Stunden ihrem tristen Alltag zu entfliehen. Mühsam buchstabieren sich einige Sängerinnen den Text der Ode an die Freude aus Beethovens Neunter zusammen. Dennoch sind sie mit Begeisterung bei der Sache. „Es gibt Leute, die bereits am Anfang Schwierigkeiten haben. Und dann müssen wir alles auch noch auf Deutsch lernen“, lachen sie. „Wir müssen bei null anfangen, aber wir werden es schaffen.“ Ebenso wie die Musiker mit ihren ramponierten Instrumenten wissen sie, dass sie wohl so manchen schiefen Ton herausbringen. Perfektion ist bei diesem Musik- und Sozialexperiment aber nicht das Wichtigste.

Wie alles anfing
Alles begann damit, dass der Pilot Armand Diangienda Mitte der 1990er Jahre seinen Job verlor. Er besann sich auf die Mission seines musikbegeisterten Großvaters Simon Kimbangu, der sich gegen die belgische Kolonialmacht aufgelehnt und die christliche Kimbangisten-Kirche ins Leben gerufen hatte. Diangienda gründete also das Orchestre Symphonique Kimbanguiste Kinshasa, um Gottes Wort auch durch Händels Messias zu verbreiten.
Der energische Mann ist unter den Laien ein musikalisches Naturtalent. Bereits mit sechs Jahren brachte er sich selbst das Klavierspiel bei. Obwohl er niemals ein Konservatorium besucht hat, dirigiert er sein Orchester und spielt Cello, Gitarre, Posaune und Schlagwerk. Außerdem hat er bereits zwei Sinfonien komponiert. Durch seine Liebe zur Musik brachte der charismatische Orchestergründer ein kleines Wunder zustande. In dem Land, das noch immer unter den Folgen von kolonialer Ausbeutung und Bürgerkriegen leidet, motiviert er rund 200 Amateure dazu, trotz ihrer täglichen Existenzsorgen regelmäßig miteinander zu proben. „Am Anfang wollten zwölf Jungen Geige lernen, es gab jedoch nur fünf Instrumente“, erinnert sich Diangienda. Also konnten die Musiker nur in verschiedenen Schichten üben. Auch heute sind die Orchestermitglieder noch auf ihre Improvisationskünste angewiesen. Orchesterdirektor Albert Nlandu Matubanza nimmt auf Märkten Holz in Augenschein und legt Schablonen an, um neue Kontrabässe zu bauen. Dabei hat er selbst nur Gitarre gelernt. Viele Instrumente seien von Plünderern geraubt worden, erklärt er.
Inzwischen legen die Musiker selbst Hand an und ersetzen gerissene Geigensaiten notfalls auch durch Bremszüge von Fahr­rädern. Nichts ist selbstverständlich vorhanden, auch Noten müssen irgendwoher organisiert werden. Orchestermitglieder reparieren außerdem Leitungen, wenn der Strom ausfällt, und schneidern sich ihre Kleidung für die Auftritte selbst.

Hinein in die Musik, raus aus dem Alltag
Der Film begleitet die Musiker auch durch ihren energiezehrenden Alltag. Nathalie Bahati, eine Flötistin des Orchesters, ist hauptberuflich Dekorateurin für Hochzeiten. Damit kann die alleinerziehende Mutter sich und ihr Kind aber nicht durchbringen. Die hohe Miete für ihre heruntergekommene Wellblechhütte kann sie schon lange nicht mehr bezahlen. Da sie bei Verwandten nur vorübergehend unterkommt, muss sie dringend eine neue Bleibe finden. In dem Orchester findet sie in ihrer schwierigen Lage Gesellschaft und sozialen Zusammenhalt.
Viele Musiker nehmen nach der Arbeit beschwerliche Wege auf sich, um an den Proben teilnehmen zu können. Wer sich die Fahrt im Sammeltaxi nicht leisten kann, muss kilometerweit zu Fuß laufen. Für Josephine Nsimba, die Frau von Orchestergründer Diangienda, beginnt der Tag bereits um fünf Uhr früh. Dann fährt sie zum Markt, wo sie Omeletts brät. Ihre Einnahmen sind bescheiden, denn die Konkurrenz, die billigere Importeier bezieht, ruiniert ihr das Geschäft. Zeit zum Ausruhen bleibt der Cellistin nicht, wenn sie pünktlich zu den Orchesterproben erscheinen will.
„Man merkt den meisten Leuten ihre große Erschöpfung an“, stellt Diangienda fest. Dennoch versucht er die Musiker dazu anzustacheln, das Beste aus ihren Fähigkeiten zu machen. Schwierige Passagen lässt er so lange wiederholen, bis das Ergebnis zumindest passabel ist. Er weckt in ihnen den Ehrgeiz, sich neuen Herausforderungen zu stellen, die sie in ihrem Leben ansonsten kaum finden würden. Trésor Wamba beispielsweise singt Tenor im Chor und lädt seine Kumpel auf der Straße zu Konzerten ein. Einfach ist das nicht, denn die meisten haben von klassischer Musik bis jetzt nichts gehört. Sie werden aber dadurch neugierig, dass der junge Mann ihnen immer wieder von Händel und Verdi erzählt. „Es ist das einzige Orchester der Welt, in dem nur Schwarze spielen“, erklärt er stolz. Joseph Masunda Lutete, eigentlich gelernter Elektriker, spielt wiederum Viola und betreibt tagsüber einen Friseursalon mit mehreren Beschäftigten. Da in Kinshasa häufig der Strom ausfällt, hat er sich einen Bartschneider angeschafft, dessen Akku für viele Stunden aufgeladen werden kann. Lutete braucht ein gutes Zeitmanagement, um alles zu schaffen. Er steht von frühmorgens bis nachmittags im Laden, geht zur Probe und kehrt danach wieder zur Arbeit zurück.
Die Sänger und Musiker spüren, wie viel ihnen die Musik geben kann. „Wenn ich die neunte Sinfonie von Beethoven singe, bin ich ganz weit weg“, bekennt die Choristin Mireille Kinkina. „Das ist einfach schön. Wenn ich singe, bin ich ganz für mich, in einer anderen Welt.“ Musik habe keine Grenzen, meint ein Orchestermitglied. Sie sei wie eine Treppe, die man immer weiter hinaufsteigen könne.

Hoffnung statt Trauer
Im Unterschied zu Venezuela, wo ein staatlich finanziertes Orchestersystem mittlerweile mehr als 300000 Kindern und Jugendlichen landesweit kostenlosen Musik- und Gesangsunterricht bietet, müssen die Orchesterpioniere in der Demokratischen Republik Kongo ohne solche übergreifenden Strukturen auskommen. Das von dem Musiker und Politiker José Antonio Abreu vor 35 Jahren begründete venezolanische Sozialprojekt hat längst herausragende junge Musiker hervorgebracht, die in internationalen Konzertzentren gefeiert werden – nicht nur wegen ihrer fortschrittlichen Ausbildung, sondern auch wegen ihres Könnens.
Dass das Kimbangisten-Orchester in absehbarer Zeit auf internationalen Bühnen brillieren wird, ist zwar unwahrscheinlich. Mit seiner sozialen Mission hat jedoch auch Diangienda unübersehbaren Erfolg. Er hat die Musiker zu einer Gemeinschaft zusammengeführt und öffentliche Aufmerksamkeit erzeugt. Zu einem Open-Air-Konzert des Orchesters anlässlich des kongolesischen Unabhängigkeitstags kamen Tausende Menschen, um sich Orffs Carmina Burana anzuhören. Die Musiker spielten, als ginge es um ihr Leben, kommentierte der Regisseur Claus Wischmann. Ein großes Publikum kann dem Orchester weitere gesellschaftliche Anerkennung bringen und damit zu seinem Fortbestand beitragen.
Diangienda wünscht sich nun, dass die europäischen Komponisten auch eine Brücke zur afrikanischen Kultur schlagen und damit der einheimischen Musik größere Geltung verschaffen. Für den Produzenten Holger Preuße liegt der spannendste Aspekt des Projekts darin, den Kongo und Kinshasa aus einem neuen Blickwinkel zu zeigen. „Die Autoren wollten nicht von Armut und Krankheit, nicht von Hunger und Gewalt erzählen“, sagte er. „Sie wollten diese Wirklichkeit aber auch nicht ausblenden. Der Film hat den Balance­akt meines Erachtens nach bemerkenswert gemeistert.“ Hoffnung und Freude im Leben der Menschen würden für die Zuschauer erlebbar, ohne dass die traurige Seite des Alltags in Kinshasa ausgeblendet werde.