Klangreise für vier Violinen

Rubrik: CDs
Verlag/Label: primton 10563
erschienen in: das Orchester 03/2011 , Seite 72

Die Besetzung von vier Violinen, die ohne Bassfundament musizieren, gehört sicher zu den ungewöhnlichsten der Musikgeschichte. Entsprechend klein ist die Auswahl an Originalkompositionen für Violinquartett, was sich auch bei der in Japan live in guter Klangqualität mitgeschnittenen CD des Bayreuth-Festival Violinquartetts bemerkbar macht. Bernhard Hartog, Konzertmeister des Deutschen Symphonie-Orchesters Berlin und in gleicher Funktion auch seit 1987 im Bayreuther Festspielorchester tätig, Michael Frenzel, Konzertmeister der Sächsischen Staatskapelle Dresden, Ulf Klausenitzer, Professor an der Musikhochschule in Nürnberg, und Kiichiro Mamine, der musikalisch in Berlin tätig war, verbindet nicht nur ihr Mitwirken im Orchester der Wagner-Festspiele: als Violinquartett wollen sie ihre reichhaltigen Kammermusikerfahrungen seit 2005 in dieser ungewöhnlichen Besetzung unterstreichen.
Ausgehend von einer der wenigen Originalkompositionen für Violinquartett von Telemann, dem unterhaltsam-virtuosen Konzert für vier Violinen in G-Dur TWV 40:201, spannen die Streicher einen anregenden Bogen durch die Jahrhunderte, wobei sie durchaus ansprechende Repertoire­entdeckungen machen. Dazu gehört das Quartett für vier Violinen op. 107 von Ignaz Lachner oder die Variationen über Ah! Vous dirai-je, Maman (das Thema nahm schon Mozart als Grundlage für Klaviervariationen) von Charles Dancla (1817-1907). Dancla, der in Paris als Geiger ausgebildet und von Paganini angeregt wurde, ist heute höchstens noch als Violinpädagoge bekannt. Hier können die Musiker – trotz Livemitschnitt und damit wohl kaum zu vermeidenden kleineren Ungenauigkeiten – ihren ausgeprägten Klangsinn demonstrieren, die Fähigkeit, bei Dancla die Variationen gemäß ihres Charakters voneinander zu differenzieren oder bei Lachner mit entsprechendem kammermusikalischen Feinschliff zu glänzen. Bei den von Mihoko Kimura eingerichteten Bearbeitungen aus Mozarts Zauberflöte (ursprünglich für zwei Violinen oder Flöten) begeistert die Fähigkeit der Streicher, Mozarts Opernwelt lebendig werden zu lassen.
Grazyna Bacewicz’ 1949 entstandenes Quartett für vier Violinen ist ein gutes Beispiel für den sich entwickelnden Personalstil der polnischen Komponistin. Die gemäßigte Modernität der Komposition findet im Bayreuth-Festival Violinquartett beredte Interpreten. Die ungewöhnliche Besetzung bringt indes nicht nur nahezu unbekannte Werke der Musikgeschichte wieder auf das Konzertpodium. Dem Ensemble freundschaftlich verbundene Komponisten wie Volker David Kirchner oder Ladislav Kupkovic haben im Auftrag der Musiker die Aufgabe unternommen, das Repertoire für vier Violinen zu erweitern. Beide Auftragswerke stehen in Beziehung zu Bayreuth und seinen Festspielen. Kirchners Ecco Veneziano ist eine Elegie auf Wagners Tod in Venedig, bei dem die Streicher die an den Tristan erinnernde Chromatik zu einem schmerzlichen Klagegestus steigern. Kupkovics Lohengrün-Variationen werden von dem Quartett mit dem nötigen Schalk im Nacken interpretiert. Eine Einspielung, die nicht nur wegen ihres Repertoirewerts, sondern auch ihrer musikalischen Überzeugungskraft der souveränen Streicher anspricht.
Walter Schneckenburger