Porter, Cole

Kiss me, Kate

Partitur. Orchestrierung: Robert Russell Bennett, Kritische Edition: David Charles Abell und Sean Alderking

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Alfred Music, Köln 2014
erschienen in: das Orchester 07-08/2015 , Seite 69

Das darf man „historisch“ nennen: Alfred Music legt mit Kiss Me, Kate erstmals einen Klassiker des Broadway-Musicals in einer offiziellen, wissenschaftlichen Ansprüchen genügenden Partiturausgabe vor. Zwar sind in der Kurt Weill-Edition bereits zwei Broadway-Produktionen erschienen, Anspruch auf den Status eines Standardwerks kann aber wohl erst Weills Lady in the Dark erheben, deren Ausgabe in nächster Zukunft zu erwarten ist.
So erfolgreich das Genre des Broadway-Musicals auch ist – was genau gemeint sein mag, wenn von My Fair Lady, Anatevka oder eben Kiss Me, Kate die Rede ist, ist längst nicht so klar, wie man denken sollte. Die Anzahl und Abfolge der Songs, ihre Texte und nicht zuletzt die Arrangements und Orchestrierungen unterliegen zahlreichen Varianten, die auf Aktualisierungen und Anpassungen an Aufführungsgegebenheiten zurückzuführen sind. Dirigiert werden die Musicals aus Conductor Scores, die in der Regel Klavierauszügen gleichen, in denen die relevanten Einsätze mit Stichnoten und Texteinträgen vermerkt sind. Allen, die über dieses Leihmaterial nicht verfügen, bleibt als Text dagegen nur der offizielle Klavierauszug, der mitunter nur wenig mit dem zu tun hat, was bei Aufführungen oder auf Aufnahmen erklingt.
Mit dieser Ausgabe liegt nun erstmals ein fundierter Referenztext vor. Erarbeitet wurde sie von dem Dirigenten und Bernstein-Schüler David Charles Abell und dem Pianisten und Musikwissenschaftler Seann Alderking, die – neben langjähriger praktischer Erfahrung – einschlägige Kenntnisse durch die Einrichtung verlässlichen Aufführungsmaterials u.a. der West Side Story gesammelt haben. Die Bearbeiter treten keineswegs mit dem Anspruch an, aus den 44 verwendeten Quellen eine verbindliche „Originalfassung“ des „Werks“ nach den (mutmaßlichen) Intentionen seines Schöpfers zu rekonstruieren. Das funktioniert im Musical schon deshalb nicht, weil es hier keinen „Schöpfer“ gibt. Musicals sind seit jeher Ergebnisse von Teamarbeit: Neben dem Komponisten der Songmelodien, dem Songtexter und den Buchautoren sind an der Genese des Stücks der Regisseur, der Arrangeur der Musiknummern, die Orchestratoren (hier Robert Russell Bennett und Don Walker), der Choreograf, die Hauptdarsteller und der Produzent beteiligt. Abell und Alderking haben daher für ihre Edition als Hauptquellen jene gewählt, die der Broadway-Premiere am 30. Dezember 1948 zugrunde lagen, da hier das Team als Ganzes beteiligt war.
Aufgabe dieser überaus gründlichen, aber nicht überladenen Edition (der gewichtige Band wird durch eine umfangreiche PDF mit Quellenmaterial ergänzt, die auf der Homepage der Yale University zu finden ist) kann und will es nicht sein, einen für alle Zeiten verbindlichen Text zu diktieren. Das Verdienst dieser Ausgabe liegt dennoch nicht allein in der Bereitstellung eines umfassenden, die Orchestration beinhaltenden Texts für die Forschung. Vielmehr hat sich schon in anderen Fällen – etwa in der 1990er Einspielung des Gershwin-Musicals Girl Crazy – gezeigt, dass die ursprünglichen Instrumentierungen erstaunlich frisch und überzeugend sein können. Wo immer also eine Aufführung von Kiss Me, Kate auf der Grundlage dieser neuen Ausgabe stattfinden wird: Ich bestelle hiermit schon mal eine Karte.
Markus Frei-Hauenschild