Kloepfer, Inge

Kent Nagano. Erwarten Sie Wunder!

Expect the unexpected

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Berlin Verlag
erschienen in: das Orchester 12/2014 , Seite 66

Eigentlich müssten Bücher, die sich nicht entscheiden wollen, scheitern: Biografie? Kulturpolitische Handreichung? Werkerläuterungen? Solche Bücher können aber auch überzeugen. Inge Kloepfers und Kent Naganos Gemeinschaftswerk Erwarten Sie Wunder! Expect the unexpected muss man wohl dazu zählen. Wer das Buch nämlich liest, muss sich zunächst auf etliche Sprünge zwischen sehr unterschiedlichen Komponisten gefasst machen, die das Dirigentenleben des US-Amerikaners beeinflusst haben: Schönberg, Beethoven, Boulez, Richard Strauss, Charles Ives, Bruckner und Frank Zappa. Im Zentrum aber steht Johann Sebastian Bach, dessen Musik Nagano in seiner Kindheit aufsaugt und die ihn seitdem nicht mehr losgelassen hat. Wer hätte das gedacht?
Sodann wird ein düsteres Bild um die klassische Musik im Heute gezeichnet. Nagano/Kloepfer (hier wohl eher Letztere) schildern eindringlich das Problem der Überalterung, die Einsparungseuphorie von öffentlicher Hand und Rundfunkanstalten, das Wegbrechen jugendlicher Zuhörerschichten sowie die Entrücktheit und Lebensferne des verbliebenen Fachpublikums, also die Schwindsucht im kulturellen Weltwunderland Deutschland. Das bedrückt, setzt aber zugleich Kräfte zur Überwindung frei. Und Nagano liefert – nämlich probate Ideen aus den USA und aus Kanada sowie Strategien aus seiner Zeit in München und Berlin, wo er etwa mit außergewöhnlichen Konzertprogrammen erfolgreich dem Bedeutungsverlust der Klassik entgegenzusteuern wusste.
Kloepfer/Nagano präsentieren dem Leser dabei eine bunte und vermeintlich unsystematische Palette an Themen, die sich sodann aber als geschickt verknüpfte Lesemotivation herausstellt: die Dirigentenkarriere Naganos etwa, seine behütete Kindheit in Kalifornien, ein bisschen Musikgeschichte, der PISA-Schock in Deutschland, Stéphane Hessels Essay Empört Euch! oder die Wirkung des Tritonus auf das menschliche Gehirn. Und immer wieder kämpferische und leidenschaftliche Plädoyers für die klassische Musik. Das liest sich gut, ist sprachlich hochintelligent formuliert und überzeugt in allen Facetten.
Es gibt nur das Problem, dass Kent Nagano natürlich für seine Sache ficht. Oder in ein gewagtes Gegenbild gegossen: Würden diese Plädoyers etwa von Franz Beckenbauer, der Lichtgestalt des deutschen Fußballs gehalten, wäre die Wirkung riesig. So ist halt Politik.
Und deshalb ist zu befürchten, dass die eindringlich geschilderten Folgen des Verlustes an klassischer Musik in Erziehung und Gesellschaft wohl leider eher ungehört verhallen werden. Umso mehr kann das Buch vor allem denen zum Lesen empfohlen werden, die an der Schnittstelle zwischen Kultur und Politik zu tun haben, denn die in den Ausführungen aufgeführten Argumente sind bestechend. Und vielleicht helfen weitere Exemplare für die zuständigen Parlamentsabgeordneten. Als sinnvolles Geschenk für den weihnachtlichen Gabentisch zum Beispiel.
Thomas Krämer