Christina Hein

Kassel: Sinnliches zum Nachdenken

Hommage an Heinrich Schütz bei den Kasseler Musiktagen

Rubrik: Bericht
erschienen in: das Orchester 01/2023 , Seite 53

„Nachdem ich lag in meinem öden Bette, ich sucht mein edles Licht, ich sucht, ob ich den Liebsten bei mir hötte, ich fand ihn aber nicht.“ Wie eine Leuchtspur führte die von Sehnsucht geprägte Motette von Heinrich Schütz, berührend gesungen von Mezzosopranistin Daniela Vega und Bassbariton Matthias Lutze, in einen funkelnden Theaterabend. Unter dem Titel Fleisch & Geist hatte er diese Antipoden menschlichen Daseins zum Thema. Am Ende sangen Vega und Lutze „Iss dein Brot mit Freuden, trink deinen Wein mit gutem Mut“ aus dem Hohelied Salomos. Dabei wurde ein Schluck aus der Wodka-Flasche genommen, an Oblaten geknabbert und die Bühne glich einem Schlachtfeld.
Heinrich Schütz (1585–1672), Hofkapellmeister in Dresden und Komponist repräsentativer Großwerke – aufgeführt auf der 18 mal 15 Meter großen Bühne des Kleinen Hauses des Staatstheaters Kassel, ohne Orchestergraben, dafür mit einem Dutzend Musiker:innen und Schau­­spieler:innen, die gemeinsam agieren. Funktioniert das? Unbedingt: spannend, modern und authentisch.
Die Kasseler Musiktage haben dem bedeutendsten Komponisten des Frühbarock aus Anlass seines 350. Todestages ein Festival bereitet. Bestandteil war das Musiktheaterprojekt „zwischen Andacht und Begehren“ des Kollektivs Nico and the Navigators. Premiere hatte die Produktion bereits beim Heinrich-Schütz-Musikfest am Theater Altenburg Gera.
Die freie Truppe, 1998 von Nicola Hümpel (künstlerische Leitung) und Oliver Proske am Bauhaus Dessau gegründet, ist bekannt für ihre experimentelle Arbeit, ein Mix aus Performance, Tanz- und Musiktheater. Mittlerweile verfügen sie über Erfahrungen in der Auseinandersetzung mit historischen Komponistenpersönlichkeiten.
Wer ist Musiker, Sänger, Tänzer, wer Schauspieler? Bei Nico and the Navigators lösen sich die Grenzen auf. Große Anziehungskraft geht von der Tänzerin Yui Kawaguchi mit ihrer radikalen, akrobatischen Körpersprache aus. Sie agiert im Trio mit Martin Buczko und Florian Graul. Eine wichtige Rolle spielt auch die Bühnenausstattung, die die Handschrift von Oliver ­Proske trägt. Mit Büchern, dem Leitmotiv, wird allerhand angestellt. Fleisch & Geist spielt in ­einer Bibliothek, der Schatzkammer des Geistes schlecht­hin. Ein markantes Element, das wie eine Reihe von Buchrücken aussieht, steht mal für eine barocke Halskrause, mal für Adlerschwingen.
Wenn es dann still ist und die Protago­nis­t:in­nen in ihre Bücher vertieft sind, scheint es, als wandelten die Engel aus Der Himmel über Berlin auf der Bühne. Es ist die Ruhe vor dem Sturm.
Breakdance und Jazz, Theorbe und Cajón: Es ist ein Kaleidoskop an Sinneseindrücken, denen das Publikum ausgesetzt ist. Dekonstruktion heißt die Devise. Da wird der Text ohne Musik vorgetragen oder die Sänger singen Barockes zu Rumba-Rhythmen. Neben Schütz kommen auch Monteverdi und Biber zu Gehör. Dass sich durch die eineinhalb Stunden Show (Dramaturgie: ­Andreas Hillger) ein slapstickartiger Humor zieht, tut der Rezeption gut.
Und wie setzt sich die Musik in diesem Feuerwerk durch? Stark und aufregend neu – nicht zuletzt durch das intensive Spiel von Elfa Rún Kristinsdóttir (musikalische Leitung, Barockvioline), Daniel Seminara (Gitarren, Laute), Anna Fusek (Blockflöte, Barockvioline), Alon Portal (Gambe, Violone) und Philipp Kullen (Percus­sions, Synthesizer).
Heinrich Schütz hatte im Dreißigjährigen Krieg den Beinamen „Lumen Germaniae“, „Licht Deutschlands“. Kulturelle Hoffnungsträger und sinnstiftende Alternativen sind auch heute wichtiger denn je. Fleisch & Geist ist ein sinnliches Stück Bühnenkunst zum Nachdenken.