Thomas Wozonig (Hg.)
Karl Böhm
Biografie, Wirken, Rezeption
Der 1894 in Graz geborene und 1981 in Salzburg verstorbene Dirigent Karl Böhm war eine Legende. Ältere erinnern sich gut an die von Medien intensiv beobachteten Gefechte zwischen ihm und Herbert von Karajan sowie beider sukzessive gefloppte Direktion an der Wiener Staatsoper. Parallelen und Differenzen in der Entwicklung und Vergötterung beider Dirigenten schildert Richard Osborne. Erst durch Nikolaus Harnoncourt und John Eliot Gardiner, heute durch die historisch informierte Aufführungspraxis, setzte der weiche Schimmer von Böhms im späten 20. Jahrhundert als paradiesisch empfundenen Mozart-Deutungen leichte Patina an. Dass diese Vollendung „Auf dem Weg zum ‚modernen Realismus‘“ von Zeitzeugen anders wahrgenommen wurde, stellt Laurenz Lütteken dar. Diese Erfahrungen nahm man auch als interpretatorischen Gewinn für Böhms Wagner-Dirigate wahr, gipfelnd von 1962 bis 1970 in Wieland Wagners Inszenierung von Tristan und Isolde bei den Bayreuther Festspielen.
Relativ ausgewogen behandeln die Aufsätze alle Lebensjahrzehnte Böhms. Die von Thomas Wozonig herausgegebene Sammlung enthält auf fast jeder Seite spannende Details und eröffnet überdies scharfe Blicke auf die Geschichte des 20. Jahrhunderts. Dazu wird umfangreich die dunkle Seite von Böhms auf die Musik gerichteter und politisch zweifelhafter Strategie beleuchtet: „Über die Frage, ob Karl Böhm ein überzeugter Nationalsozialist war oder lediglich ein ziemlich gewissenloser Opportunist, lässt sich nur spekulieren“ (Michael Kraus).
Brüche zeigen sich in dieser präzisen wie respektvollen Aufsatzsammlung. Das mehrmonatige Berufsverbot nach dem Zweiten Weltkrieg, aber auch Böhms Ambivalenz mit der Vorliebe für das Ensembletheater sowie seine häufige Abwesenheit aus Wien neben von Karajans Ambitionen für das Stagione-System. In Erinnerung kommen die zahnradartig ineinander wirkende Terminarbeit der parallel stattfindenden Salzburger und Bayreuther Festspiele aufgrund derselben Mitwirkenden und natürlich von Böhm selbst. Erst im letzten Teil des Buchs treten Würdigungen der musikalischen Eigenschaften eines für den fast das ganze 20. Jahrhundert künstlerische Maßstäbe setzenden Dirigenten in den Vordergrund. Übergeordnet wird deutlich, dass Böhm trotz seines weltweiten Einsatzes für die Etablierung von Alban Bergs Wozzeck bis zu dessen Erstaufführung an der Met dem Schaffen der musikalischen Gegenwart weniger zugetan war als oft behauptet. Immer wieder wird Böhms Bedeutung als dirigentischer Siegelbewahrer von Richard Strauss gewürdigt, der Böhm seine Oper Daphne gewidmet hatte.
Roland Dippel