Bach, Johann Sebastian

Kantaten BWV 34, 74, 172

Live aus der Thomaskirche Leipzig. Thomanerchor Leipzig, Gewandhausorchester, Ltg. Georg Christoph Biller

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Rondeau Production ROP 4026
erschienen in: das Orchester 09/2012 , Seite 78

Diese neue, auf insgesamt zehn CDs angelegte Serie von Einspielungen Bach’scher Kantaten, deren Abschluss für März 2014 projektiert ist, verdankt sich dem in diesem Jahr zu begehenden 800-jährigen Bestehen des Thomanerchors. Dessen Beständigkeit ist, zumindest soweit es sich seit der Existenz von Tonträgeraufzeichnungen nachverfolgen lässt, frappierend: Hätte ich diese CD ohne jede Vorinformation gehört, so hätte ich spätestens beim Einsatz des Chors mit hundertprozentiger Sicherheit auf „die Thomaner“ getippt! Sie hatten und haben ihren ganz eigenen Klang, was bei der altersbedingt notgedrungen hohen Fluktuation einerseits, den unterschiedlichen Dirigentenpersönlichkeiten andererseits ganz erstaunlich ist: ob Straube, Ramin, Thomas, Rotzsch oder Biller „draufsteht“ – drin sind immer, hörbar, die Thomaner! Dieser Chor ist einzigartig – auch und besonders in der vorliegenden Einspielung.
Und damit habe ich mein positives Pulver zu dieser CD (der Nummer 7 aus der Serie und in Bachs kirchlichem Festkreis dem Pfingstfest gewidmet) auch beinahe schon verschossen: Das Gewandhausorchester musiziert brav, aber keineswegs spektakulär. Der stets etwas problematische Einsatz von Knaben für die anspruchsvollen Sopran- bzw. Alt-Partien mag historisch zu rechtfertigen sein, geht aber in dieser Aufnahme doch ziemlich daneben, was mir jedoch weniger an den Thomaner-Solisten als an der Aufnahmetechnik zu liegen scheint: Das Orchester schwappt über die Soli zeitweilig bis zu deren Unhörbarkeit, und da geraten natürlich feine Knabenstimmen erst recht unter die Räder. Aber auch mit einigen Leistungen der erwachsenen Solisten bin ich nicht besonders glücklich. Der Tenorpart des Christoph Genz in BWV 74 ist zweifellos recht anstrengend, darf aber gleichwohl nicht angestrengt klingen. Genz aber singt seine Arie hörbar bemüht. Der schöne, tiefe, geradezu „schwarze“ Bass Reinhard Deckers kommt in BWV 172 schlank herüber, aber leider doch etwas zu schlank: da ist kaum Volumen, kaum Resonanz. In bewährter Qualität zeigen sich einzig der Tenor Martin Petzold (BWV 172) und der Bassist Matthias Weichert (BWV 74), der auch die perlenden Koloraturen – für tiefe Stimmlagen stets eine wahre Zumutung! – mit erstaunlicher Leichtigkeit nimmt.
Ungeachtet solch leichter Einwände bleiben es aber dank der jugendlichen „Jubilare“ hörenswerte Aufnahmen. Sie sind Durchschnitt, aber guter Durchschnitt! Billers Dirigat ist leicht und flüssig, er wählt klug das aus der historischen Aufführungspraxis, was ihm verwertbar erscheint, bleibt aber im Übrigen ganz unverkrampft dem 21. Jahrhundert verpflichtet.
Ein Pluspunkt dieser Edition, durchaus nicht selbstverständlich: Die Texte der Kantaten sind jeweils vollständig im Beiheft abgedruckt und angesichts der oben monierten Verständlichkeitsprobleme von einigem Nutzen.
Friedemann Kluge