Jörg Widmann

Kadenzen

Konzert für Violine und Orchester D-Dur op. 61 von Ludwig van Beethoven

Rubrik: Rezension
Verlag/Label: Schott, Mainz
erschienen in: das Orchester 4/2025 , Seite 68

Beschaffenheit und Stil von Kadenzen zu klassischen Konzerten sind unter Musiker:innen immer wieder Gegenstand kontroverser Diskussionen. Einerseits gibt es zu nahezu jedem Konzert, sofern nicht Kadenzen des jeweiligen Komponisten existieren (Tschaikowsky, Mendelssohn, Bartók Nr. 2 etc.), eine ganze Anzahl publizierter Kadenzen berühmter Interpreten und Komponisten der Vergangenheit (Joachim, Kreisler, Ysaÿe, Vieuxtemps, Saint-Saëns usw.), die oft und gerne gespielt werden. Andererseits lehnen heute manche Interpret:innendie herkömmlichen und traditionellen Kadenzen als stilistisch unpassend ab und versuchen sich, angelehnt an authentische existierende Modelle, an der Produktion von Kadenzen à la Mozart, à la Beethoven.
Was ist eine „Kadenz“, was ist innerhalb eines Konzertes ihre Funktion? In der Vergangenheit waren Interpreten in der Regel selbst arrivierte Komponisten. Den Notentext des Stücks spielten sie oft nicht wie vom Komponisten niedergeschrieben, sondern in sehr „freier“ Lesart, fügten ad libitum Passagen, Ornamente, ein, so dass als Resultat eine Art Improvisation über das ursprüngliche Werk entstand, in der der Komponist sein Stück kaum wiedererkannte (und sich bitterlich darüber beklagte, siehe Mozart oder Beethoven). Also könnte man sich vorstellen, dass eine Art Kompromiss entstand: Der Notentext als Wille des Komponisten bleibt – im Großen und Ganzen – unangetastet, in der – damals improvisierten – Kadenz erhält der Interpret Freiraum, sich schöpferisch mit Motivik und Substanz der Komposition auseinanderzusetzen und zugleich seine virtuos-instrumentalen Fähigkeiten zu demonstrieren. Maßgeblich für den „Stil“ der Kadenz ist also der Personalstil des jeweiligen Verfassers.
Jetzt hat mit Jörg Widmann nach seinerzeit Alfred Schnittke ein weiterer führender zeitgenössischer Komponist Kadenzen zu Beethovens Violinkonzert geschrieben. Zur Sologeige gesellen sich partiell Pauke und Kontrabass, das Kadenzende und der Beginn von Beethovens Coda sind „überblendet“. „Wichtig war mir bei aller klanglichen und formalen Freiheit, dass alles um melodisches, harmonisches und rhythmisches Material aus dem Violinkonzert kreist, […] und doch ein klanglich ganz neuer Kosmos entsteht, in dem die Beethoven’schen Figuren in ganz neuem Licht erscheinen können.“
Beethovens Musik in „neuem Licht erscheinen“ zu lassen, das ist Widmann sicher auf originelle Weise fantasievoll gelungen. Sie kommt quasi im Hohlspiegel daher, tonale, polytonale und atonale Elemente im Wechsel, Naturflageoletts, Bartók-Pizzicato, col legno – und Sul-ponticello-Farben inklusive. Spieltechnisch sind die Kadenzen anspruchsvoll, aber durchaus mit Gespür für das Instrument gestaltet.
Herwig Zack

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