Hiller, Wilfried
Kaddisch
für Klarinette, Kontrabass und Klavier, Spielpartitur und Stimmen
Im Oktober 2010 verstarb 60-jährig der Dirigent David Stahl, seit 1999 Musikdirektor des Münchner Gärtnerplatztheaters. Der gebürtige New Yorker, dessen jüdische Eltern aus Fürth bzw. Essen stammten, war in den USA als Assistent Leonard Bernsteins und international als Mahler-Interpret bekannt geworden.
Der 1941 geborene Münchner Komponist Wilfried Hiller, Schüler von Günter Bialas und Carl Orff, widmet mit seinem achtminütigen Trio Kaddisch (aramäisch für heilig) dem verstorbenen Kollegen David Stahl ein instrumentales Trauergebet. Die Tonfolge hchf bildet das zunächst leise klagende Ausgangsmotiv, das sich im variativen Wechselspiel der drei Instrumente steigert, wobei sich die Tritonusspannung fh als entscheidendes Movens bewährt. Höhepunkt des Stücks ist ein anklagender Fortissimo-Ausbruch mit perkussiven absteigenden Dreitonfolgen, die, wie dem Vorwort des Komponisten zu entnehmen ist, als stählerne Syllabisierung des Namens Da-vid Stahl zu verstehen sind.
Gegen Ende des Werks lässt Hiller die Klarinette eine original jüdische Melodie zum Psalm 119 intonieren, dessen Text an dieser Stelle lautet: Deine Verse sind eine Lampe meinem Fuß, Schatten und Licht öffnen Weite und Tiefe dem Pfad meines Lebens. Die Komposition schließt in leiser hoher Klarinettenlage mit den Tönen D und Es, die diesmal die Initialen des Widmungsträgers zum Klingen bringen.
Wilfried Hillers Besetzung Klarinette, Kontrabass und Klavier hat in der geläufigen Kammermusik kein Vorbild; allenfalls Juan Allende-Blins Silences interrompues von 1969 wären als besetzungsidentisches Werk zu nennen.
Hiller lässt die Klarinette fast permanent als melodiegestaltenden Hauptakteur auftreten. Kontrabass und Klavier haben demgegenüber relativ viele gemeinsame Pausen und ausrufartige, wiederum gemeinsame Neueinstiege; bei dem erwähnten dynamischen Ausbruch übernehmen sie das perkussive Element mit Sekundreibungen im Diskant des Klaviers und nachschlagenden Attacken der Holzseite des Bogens auf die beiden oberen Saiten des Kontrabasses. Im abschließenden Psalmteil deuten sich gegenüber den immer noch erregten Tonrepetitionen der Klarinette ruhige, choralartige Akkordgänge von Klavier und Bass an.
In der skizzierten Beschränkung der Motivik einerseits und der instrumentalen Funktion andererseits gelingt Wilfried Hiller mit Kaddisch ein beeindruckendes, ursprünglich vermutlich sehr persönlich gefärbtes Dokument intensiver Trauer, das in seiner emotionalen Dichte aber gewiss auch allgemeingültigen Charakter über den Todesfall David Stahls hinaus zu entfalten vermag.
Die Einzelstimmen von Klarinette und Kontrabass sind als probenfreundliche Spielpartituren, also als Kopien der nur fünf Seiten umfassenden Klavierpartitur, gefertigt. Das Werk wurde bereits im März 2011 in München uraufgeführt.
Rainer Klaas